Zivilgesellschaft 4.0 – Geflüchtete und digitale Selbstorganisation

11 Handlungsempfehlungen

Seit dem Sommer der Migration 2015 ist es der Selbstorganisation zu verdanken, dass Deutschland nicht in eine humanitäre Krise geriet. Die letzten Monate haben gezeigt, dass Selbstermächtigung und digitale Werkzeuge von wesentlicher Bedeutung sind, um selbstorganisierte Vorhaben weiterzuführen. Auf dem Berliner Kongress „Zivilgesellschaft 4.0 – Geflüchtete und digitale Selbstorganisation“ sind Expert*innen, Aktivist*innen und Unterstützer*innen zusammengekommen und haben gemeinsam folgende Handlungsempfehlungen entwickelt:

1. Kampf der Isolation
In Massenunterkünften mit schlechter Anbindung an das Stadtleben, oftmals in fremdenfeindlichen Nachbarschaften, ist ein Leben in Würde nicht möglich. Viele Unterkunftsbetreiber*innen unterbinden den Zugang zum Internet und verbieten sogar Schwarze Bretter zur Verbreitung von gedruckten Nachrichten. Konnektivität ist für die Handlungsfähigkeit und Selbstorganisation wesentlich. Konnektivität bedeutet Kontakt zu Menschen, Zugang zu Informationen, Internetverbindung und Zugang zu Computern. Je entfernter das Stadtzentrum, desto dringender der Bedarf nach Konnektivität. Netzneutralität und freier Internetzugang sind von kritischer Bedeutung. Unterbringung in Unterkünften sollte zeitlich begrenzt sein, selbstbestimmtes Wohnen ist ein unabdingbares Recht.

2. Gemeinsames Lernen ist ein Gebot der Stunde.
Die Zeit, auf die Notlage zu reagieren, ist vorbei – jetzt geht es darum, den Wandel zu organisieren. Der anstehende Lernprozess umfasst Neugekommene und Unterstützer*innen, Nachbarn und Funktionsträger*innen. Geflüchtete müssen zu Gehör kommen. Unterstützer*innen brauchen Räume zur Selbstreflektion. Die Situation der Neugekommenen lässt sich nur dann verbessern, wenn ihre Kenntnisse und Erfahrungen aktiviert werden. Nicht-Geflüchtete brauchen Unterstützung, um von ihren Erfahrungen zu lernen und sich ihren Herausforderungen zu stellen. Es ist an der Zeit, Räume für die Zusammenarbeit zu schaffen.

3. Besser als Kaffee und Kekse: Informationen zum Asylrecht
Geflüchtete brauchen Informationen, um die Unwägbarkeiten der Zeit nach ihrer Ankunft nachzuvollziehen. Angesichts ständiger Gesetzesreformen ist es für sie besonders wichtig, den Prozess der Statusklärung zu begreifen. Wissen muss organisiert und weitergegeben werden, von Rechtsfragen bis zum Einblick in die öffentlichen Angebote der Städte. Face-to-face und peer-to-peer-Begegnungen sind effektiver als Apps und Online-Angebote, denn: Jeder Fall ist anders.

4. Die Lebensqualität in Unterkünften ist eine Verantwortung der Regierung.
Hohe Budgets gehen an die Betreiber*innen von Unterkünften. Trotzdem werden immer häufiger Missstände vermeldet: in der Qualität der Dienstleistungen ebenso wie im Umgang mit den Geflüchteten. Es fehlt an Schutzräumen für Frauen. Unterkunft-Mitarbeiter*innen und Sicherheitsdiensten agieren oft entgegen grundlegender Standards eines respektvollen Umgangs. Vergabe-Richtlinien müssen Anforderungen zur Personalauswahl und -Weiterbildung aufstellen. Es ist Aufgabe der staatlichen Aufsichtsstellen, die Qualität der Unterkunft und des Umgangs mit Geflüchteten streng zu kontrollieren.

5. Sprachkenntnisse und digitale Kompetenzen sind Prioritäten.
Der Zugang zu Sprachkursen ist von wesentlicher Bedeutung und sollte nicht an die Statusklärung gebunden sein. Digitale Kompetenzen sind grundlegend, um am sozialen Leben teilzuhaben und Sprachkenntnisse zu vertiefen. Neue Online-Tools können zwar nicht die Wirksamkeit sozialer Interaktionen ersetzen, ermöglichen es aber, spezifische Kompetenzen zu verbessern. (Ehrenamtliche) Sprachlehrer*innen brauchen Weiterbildungsangebote, um Methoden zu optimieren und Zugänge zu digitalen Angebote zu erschließen.

6. Die Wohnungskrise betrifft die gesamte Gesellschaft.
Die Wohnungsnot ist dringend anzugehen und lässt sich nur mit innovativen Konzepten lösen, die soziale Segregation vermeiden. Städte stehen heute vor der Wahl, Ghettos für Geflüchtete oder Wohnraum für alle zu schaffen. Internationale Erfahrungen belegen den Erfolg von Ansätzen, die die künftigen Bewohner*innen in den Wohnungsbau einbinden. Politische und praktische Imagination sind von Nöten, wenn es darum geht, Wohnraum für Geflüchtete und Nicht-Geflüchtete zu schaffen.

7. Gesundheit hängt von Wissen und sozialen Interaktionen ab.
Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist ein Menschenrecht. Forschungsergebnisse zeigen, dass sich das Wissen um Gesundheitsfragen und die Qualität sozialer Interaktionen auf die Gesundheit auswirken. Um die medizinische Versorgung von Geflüchteten zu gewährleisten, ist ein digitales Dokumentationssystem für Krankenakten notwendig. Open-Source-Lösungen, die Krankenakten mit E-Mail-Adressen verbinden, sollten in Einsatz gebracht werden.

8. Der Zugang zu Arbeit ist entscheidend für ein Leben in Würde.
Gesetzliche Auflagen und Bürokratie verhindern Geflüchteten den Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Anerkennung von Berufen bedarf einer Neuregelung. Unternehmen und Organisationen benötigen Beratung, um vermehrt Praktika anzubieten bzw. Kompetenzen und Potenziale zu aktivieren. Um soziale Interaktion zu fördern, sollten Ein-Euro-Jobs außerhalb von Geflüchteten Unterkünften angeboten werden. Eine Online-Plattform zur Verknüpfung von Angebot und Nachfrage ist notwendig.

9. Geflüchtete Frauen, Kinder und unbegleitete Jugendliche benötigen besondere Aufmerksamkeit .
Geschützte Räume in Massenunterkünften verbessern die Lage der geflüchteten Frauen, die Vermittlung digitaler Kompetenzen stärkt die Chance zur Selbstbestimmung. Bildung, soziale Interaktionen, Zeit zum Spielen und zum Kindsein sind Kindern und unbegleiteten Jugendlichen zu gewährleisten. Digitale Kompetenz ist für die Chancengleichheit mit nicht-geflüchteten Kindern und Jugendlichen von wesentlicher Bedeutung.

10. Gemeinsame Räume und Erfahrungen schaffen
Langes Warten und die einhergehende erzwungene Passivität ergeben eine demütigende Situation. Geflüchtete brauchen Räume zur Begegnung und Gelegenheiten, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Öffentliche Räume wie Bibliotheken, freier Eintritt zu Kulturveranstaltungen, Bücher und Filme sind von wesentlicher Bedeutung. Angebote, um (digitales) Storytelling zu erlernen, sind wichtig, um die Isolation zu überwinden und einen Austausch zu beginnen. Ein digitaler Veranstaltungskalender mit (kostenlosen) Angeboten für Geflüchtete ist notwendig. Mapping-Projekte und -Tools sind außerdem geeignet, die Umgebung zu erschließen.

11. We are all born free. My right is your right.
Was wir in Deutschland erleben, ist nicht eine Krise, sondern der Beginn einer politischen Mobilisierung. Geflüchtete und Unterstützer*innen engagieren sich für das Recht zu bleiben und ein Leben in Würde. Um Bewusstsein und Solidarität zu schaffen, sind präzise Worte und sorgsam ausgewählte Bilder notwendig. Übersetzen ist von wesentlicher Bedeutung, um Begegnungen zu ermöglichen. Geschichten können Brücken schlagen. Es ist an der Zeit, unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten einzusetzen, um diesen Geschichten Gehör zu verschaffen.
Berlin, März 2016

Namen und Organisationen
Bino Byansi Byakuleka, We Are Born Free! Empowerment Radio
Katharina Dermühl, Migration Hub, Kiron University
Anke Domscheidt-Berg, Aktivistin, Unternehmerin, Publizistin
Campus Cosmopolis e.V.
Lutz Engels, Chaos Computer Club Berlin e.V.
Silvia Fehrmann, Haus der Kulturen der Welt
Leila Haghighat, Haus der Kulturen der Welt
Nanna Heidenreich, Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig
Chaghaf Howayek, Center for Metropolitan Studies
Diana McCarty, reboot.fm
metroZones, Center for Urban Affairs
Duscha Rosen, FrauenComputerZentrumBerlin e.V.
Eva Stein, Haus der Kulturen der Welt
Samee Ulah, Refugee Club Impulse / My Right is Your Right