1955 forderten die Werktätigen der DDR ostdeutsche Autor*innen in einem offenen Brief auf, mehr Bücher über das Leben der Arbeiterklasse und ihren Beitrag zum Aufbau einer neuen Gesellschaft zu schreiben. Damit begann ein profunder Wandel in der Kulturpolitik des Landes. Schriftsteller*innen gingen in die Fabriken, um sich ein eigenes Bild von der Arbeitswelt zu machen, und der Staat förderte das künstlerische Schaffen der Beschäftigten selbst. Von Künstler*innen geleitete künstlerische Zirkel in den Fabriken widmeten sich allen Genres – von Literatur und Fotografie, über Malerei bis zu Theater und Tanz. Der nach einem Schriftsteller*innenkongress 1959 benannte Bitterfelder Weg entwickelte sich zur ostdeutschen Kulturbewegung, die es sich zur Aufgabe machte, die Kunst zu den Werktätigen zu bringen. Aus der Verbindung von Kunst und Alltag, Kunstschaffenden und Werktätigen, sollte eine neue nationale Kultur erwachsen. Kultur sollte im Arbeitsleben und in der Freizeit der DDR-Bürger*innen zum Teil des gesellschaftlichen Lebens werden.

Mit der Einbettung von Kunst und Kunstschaffen in die Fabriken und andere Lebensbereiche der DDR ging auch Kritik an der Republik einher. Allerdings tolerierte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) nur Kunst und Kultur, die der Parteilinie entsprach. Ihre Mission war die Schaffung und Förderung „des sozialistischen Bewusstseins und des sozialistischen Menschen“. Der Bitterfelder Weg sollte – so der Wille der Partei – als kulturpolitisches und ideologisches Instrument wirken. Kritische Stimmen, die die Freiheit der Kunst reklamierten, waren unerwünscht, denn ihre Kritik hätte sich auch gegen die Politik der SED wenden können. Kunstschaffende und Kulturarbeitende wehrten sich gegen diese Instrumentalisierung und Regulierung und betonten ihrerseits die kritische Funktion der Kunst und die Verantwortung der Kunstschaffenden in der Gesellschaft.

In Folge des Bitterfelder Weges entstanden überall in der DDR Schreibzirkel, Arbeitertheater, Varietés und Volkstanzgruppen. Alle gesellschaftlichen Schichten und Generationen hatten Zugang zur künstlerischen Praxis und zu Kulturinitiativen. Kunstschaffende waren bereit, ihre Werke der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gemeinsame Produktionen wurden bei den sogenannten Arbeiterfestspielen der DDR präsentiert. Berühmte Autorinnen wie Christa Wolf und Brigitte Reimann ließen sich für berühmte Werke von ihrer Zeit in den Fabriken inspirieren.

Im Kontext der Echos der Bruderländer stellte die Forscherin Nguyễn Phương Thúy die Frage, ob die Kulturkreise den Arbeitsmigrant*innen in der DDR ebenso offenstanden wie ihren ostdeutschen Kolleg*innen. Dies war, so belegen das Archiv Schreibende ArbeiterInnen und Gespräche mit mehreren DDR-Kunstschaffenden, die diese Zirkel moderierten – unter anderem der Fotograf Andreas Mroß, die Malerin Sigrid Noack, der Autor Rüdiger Bernhardt, der Künstler Reimar Börnicke oder die Choreografin Dina Wust – eher die Ausnahme als die Regel. Sie berichten zwar von internationalen Werken, die bei den Arbeiterfestspielen gezeigt wurden, doch ob diese von Arbeitsmigrant*innen oder ,Vertragsarbeitern‘ produziert worden waren, bleibt unklar.

Die Community-bezogenen Recherchen für diese Ausstellung ergaben, dass Kunst und Kultur und insbesondere Musik und Poesie relevante Aspekte für die diasporische Arbeiterklasse sind. Sie teilen sie mit Ex-Kolleg*innen und alten Freund*innen in sozialen Medien oder bei Veranstaltungen ihrer Communitys. Ihre Texte und Bilder bauen Brücken zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. Als nähmen sich ehemaligen ,Vertragsarbeiter‘ an der Hand und kehrten zurück in die Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte.

In diesem Teil der Ausstellung erwarten die Besuchenden persönliche Berichte und Werke früherer ‚Vertragsarbeiter‘ aus Algerien, Kuba, Mosambik und Vietnam. Einige wurden nach einem über diverse Chat-Gruppen publizierten Aufruf eingesandt. Andere erreichten uns über persönliche Kontakte zu den Communitys oder ergaben sich über Community-Events und in persönlichen Gesprächen. Das Material umfasst entworfene und bestickte Kleidungsstücke, die die Arbeiter*innen an Kolleg*innen verkauften oder selbst trugen, Briefe und lyrische Stücke, die an Liebhaber*innen, Familienmitglieder und Freunde geschickt wurden, sowie Gemälde und Gedichte, die die Jugend und das Leben in der DDR dokumentierten.