1994: Anachronistisch fit für die Zukunft

Auf dem Marktplatz des Globalen Dorfs

Wole Soyinka, Aus: Samarkand und andere Märkte (Gedichte), (c) Ammann Verlag, Zürich

Rund um das Haus beginnen 1994 Vorbereitungen dafür, die Leerstellen der deutschen Teilung zu schließen, mindestens aber die Narben zu übertünchen. Auf dem Potsdamer Platz, dessen zu Mauerzeiten nur von Kaninchen bewohnte Einöde schon in Gedichten besungen wurde, wird der erste Spatenstich für das Debis-Viertel getan. Die Daimler-Tochter hat das Gelände vom Berliner Senat für einen eher symbolischen Preis erhalten. In den kommenden Jahren werden Bauten nach Entwürfen von Architekten-Stars wie Renzo Piano, Isozaki, Kollhoff hochgezogen. Daneben das Sony-Center, erdacht von Helmut Jahn. Der Bundestag beschließt eine Kuppel für den Reichstag auf der anderen Seite und gibt damit den Startschuss für den Ausbau des nicht lange zuvor zum Sitz des deutschen Parlaments bestimmten Halbprovisoriums. Sir Norman Foster, der eigentlich einen Baldachin auf den Reichstag hatte setzen wollen, muss beim Dachausbau den Entwurf des Zweiprämierten übernehmen – heute ist die leuchtende Glaskuppel mit Wendelrampe eine der beliebtesten Berliner Sehenswürdigkeiten. Fast daneben wird das Brandenburger Tor 1994 vom Wahrzeichen der Teilung zur Kulisse von weltweit übertragenen Pop-Shows, MTV verleiht hier seine „European Music Awards“. Wieder daneben erfolgt der erste Spatenstich fürs Adlon. Nördlich des Hauses der Kulturen der Welt wird für die Aufnahme von Millionärskunstsammlungen am Hamburger Bahnhof gewerkelt, da, wo früher ein Grenzübergang war. Und das Büro Schultes und Frank hat mit seinem Entwurf eines „Bands des Bundes“ gerade den Wettbewerb für das Regierungsviertel im Spreebogen gewonnen.

Weltpolitisch wird ebenfalls an der Neugestaltung des West-Ost-Verhältnisses gearbeitet. In Brüssel kommt es in diesem Jahr zur Unterzeichnung des Abkommens „Partnership for Peace“. Vertragspartner sind die NATO-Staaten einerseits und 23 Staaten vor allem des Ostens andererseits, von Albanien bis Usbekistan, auch Russland ist dabei. Weitere zehn Länder sind heute Mitglieder des Nordatlantik-Pakts, von Polen bis Rumänien.

Und mittendrin das Haus der Kulturen der Welt, gerade fünf Jahre alt geworden, mit seiner Halle aus den 50er Jahren und mit seinen Versuchen, ganz andere Partnerschaften herzustellen. Da wird hartnäckig die Idee vom Global Village verfolgt: Alle die Kulturen dieser einen Welt sind gleichberechtigte Nachbarn, die sich begegnen und austauschen. Das klingt in der Zusammenfassung des Interviews mit einer Programmmacherin so: Der erste „Fünfjahresplan“ zeige eine gewisse Lateinamerika-Lastigkeit, was in den nächsten fünf Jahren vermutlich eine gewisse Verschiebung auf den südostasiatischen Kontinent erfahren wird. Dieses Prinzip, im Kreisel um die Welt und jeder ist mal dran, haben schon die letzten Jahre gezeigt. Viele Sprachen werden in diesem globalen Dorf gesprochen, im Januar 1994 etwa tönt es auf dem Marktplatz der Lesungen vietnamesisch, spanisch mit peruanischem und mit argentinischem Akzent und dann noch Farsi. Man stelle sich vor – einfach die Augen schließen und die Klänge eines anderen Programm-Monats dieses Jahres wehen heran: Klänge vom Roten Meer, die sich mit französisch-inspriertem Jazz mischen, mit dem Dröhnen von australischen Aborigines, der Begleitmusik eines südamerikanischen Festes und den Trommelschlägen der Thundering Dragons aus China. Das hat was liebenswert Überholtes, schließlich vergisst das Haus auch die Probleme nicht, geredet wird über „Politik Irans im neuen Weltsystem“ oder „Politischer Islam in Ägypten“. Doch die neuen Skyscrapers und Schaltzentralen, die Globalisierungs-Popkulturen und die neuen Machtverhältnisse entstehen woanders, ganz einfach daneben.

Doch heute, schaut man zurück, hat sich heraus gestellt: Die Konzentration auf deutsche Einheitsbefindlichkeiten und die Ost-West-Perspektive war so schlau denn doch nicht. Heute sind „plötzlich“ und scheinbar aus dem Nichts ganz andere Global Players da, die südliche Freihandelszonen bilden oder eine eigene Erdölbeschaffungspolitik entwickeln. Die das Leben in Deutschland stark beeinflussen. Gut, wenn man sich mit deren Kulturen beschäftigt hat.
Axel Besteher-Hegenbart