Lothar Müller: Kurzlaudatio auf Michail Schischkin und seinen Übersetzer Andreas Tretner

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Sie haben soeben den Dolmetscher kennengelernt, der in dem Roman, den zu feiern wir zusammengekommen sind, für die Einwanderungsbehörde der Schweiz arbeitet. Das verbindet ihn mit seinem Autor. Michail Schischkin, der 1961, im Jahr des Baus der Berliner Mauer, in Moskau geboren wurde und 1995 in die Schweiz auswanderte, hat eine Zeitlang Protokolle von der Art angefertigt, wie Sie sie nun in „Venushaar“ lesen können, Lebensgeschichten erfragt und aufgeschrieben, die erzählt wurden, um einen Asylantrag zu begründen. „Der Dolmetsch“, so heißt die Figur im Roman. Und wie dem Dolmetscher seine Endung ist den Protokollen das Aktenzeichen abhanden gekommen. Denn der Sachbearbeiter mag mit bürgerlichem Namen Peter heißen, im Roman ist er Petrus, der darüber wacht, wer ins Paradies hinein darf, oder genauer gesagt, er hat einen Doppelgänger namens Petrus, der ihn aus seiner Amtsstube entführt, dorthin, wo früher die Erlösungsversprechen gegeben und am jüngsten Tag die Toten auf Himmel und Hölle verteilt wurden. Eine prosaische Umschreibung für diese Entführung könnte lauten: Sie ist die Aneignung der Bürokratie und des Schreckens der Geschichte durch die Literatur. Nicht irgendeine Literatur, sondern eine Literatur aus dem Geiste Nikolai Gogols, bei dem sich nicht nur Wortendungen von ihrem Rumpf, sondern auch ganze Riechorgane von dem Körper lösen, dem sie angehören, bei dem aus Kanzleipapier und Statistiken tote Seelen aufsteigen und bei dessen Mummenschanz der heillosen Welt der Witz und das Grauen als unzertrennliches Paar Regie führen.

Das Abtrennen von Körperteilen von Ciceros Händen und Kopf, die am Forum Romanum zur Schau gestellt werden, bis zu den Explosionen, die im Tschetschenien-Konflikt Zivilisten in einem Bus zerfetzen, ist in diesem Roman keine phantastische Allüre der Literatur, sondern Teil der Realgeschichte, die er in sich aufnimmt. Da sind die Soldatenzüge und Hinrichtungen aus der „Anabasis“, dem Kriegsbericht des Xenophon, da sind die Geschichten von Gewalt, Vertreibung und Grausamkeitsritualen während des Ersten Weltkriegs und der Russischen Revolution, im Zweiten Weltkrieg und in der Stalinzeit, bis hin ins Ossetien und Tschetschenien der Ära nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Darstellung dieses Schreckens der Geschichte hat aber in diesem Roman von der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts auch dies gelernt: die Dämonen nicht lediglich aus dem Spiel der Einbildungskraft, sondern aus dem Alltag und der Fülle seiner Details hervorgehen zu lassen. Das Tagebuch einer fiktiven russischen Sängerin, die 1899 geboren wird, hat Michail Schischkin zu einem lebendigen Archiv dieser Fülle des Alltags und des Privaten gemacht, zu einem Album voller Liebesandenken und zu einer episodischen Geschichte der russischen Kunst im 20. Jahrhundert außerdem. Und er hat den „Dolmetsch“ in eine tieftraurige Liebesuntergangsgeschichte verstrickt, in der ein Toter höchst lebendig herumspukt und die Liebenden Tristan und Isolde nicht deshalb heißen, weil sie nach höheren Weihen streben, sondern weil es modernen Liebenden gelegentlich gefällt, sich in kleine Privatmythologien zu hüllen.
Das Motto des Romans zitiert die apokryphe Offenbarung des Baruch: „Denn durch das Wort ward die Welt erschaffen, und durch das Wort werden wir einst auferstehen.“ Das Motto benennt nicht nur ein Grundmotiv jeder vom Schrecken der Geschichte durchtränkten Literatur, die Wiedererweckung der Toten. Es ist zugleich das ideale Motto eines Romans, durch den ein Dolmetsch führt. Und zudem spricht dieser Dolmetsch ja mit doppelter Zunge, er spricht zugleich die Sprache seines Autors Michail Schischkin und seines Übersetzers. So gut wie das Motto passt dieser Übersetzer zu diesem Roman. Andreas Tretner, 1959 in Gera geboren, jetzt in Berlin lebend, kennen Sie vielleicht als die deutsche Stimme von Boris Akunin, Vladimir Sorokin und Viktor Pelewin. Jetzt ist er auch die deutsche Stimme von Michail Schischkin, und das heißt, er ist ein ganzer Chor von Stimmen, ein virtuoser Dirigent der Polyphonie aus Bibelsprache und Verhörprotokoll, elegischer Liebesreminiszenz und hart-vulgärem Landserton, Palindromgirlanden und Wortspielen.
„Als ich vor Gogols Leichnam trat, schien er mir gar nicht tot zu sein.“ Diesen Satz des Bildhauers Ramasanow, der dem Dichter die Totenmaske abnahm, zitiert Schischkin in seinem Roman gegen Ende. Eine der Passagen, in denen der wiederauferstandene Gogol durch diesen Roman spukt, möchte ich Ihnen kurz vorlesen, um ihnen einen Eindruck davon zu vermitteln, wie Michail Schischkin, der Autor des Dolmetsch und Andreas Tretner, der Dolmetsch des Dolmetsch, zu einem idealen Autor-Übersetzer-Duo verschmolzen sind, also einem Duo, bei dem beider mit gleicher Kraft an einem verschiedenen Strang ziehen. Gogol lebte zeitweilig in Rom, und Rom ist als Stadt der Toten und der Statuen ein wichtiger Schauplatz dieses Romans und also auch als Stadt der Auferstehung durch das Wort. Und so klingt Schischkins Gogol in Tretners Deutsch: „Und es fiel ein Schnee auf dem Esquilin, miten im August. Vom ersten frost war das Laub am Boden knochenhart. Triton gaukelt vor, ein Engel zu sein, und er bläst in die Ohrtrompeten: Steht auf, steht auf, was liegt ihr hier faul herum! Sie hatten in die Ewige Stadt gewollt. Irrtum!, sprach der Igel. Was, das will ein Toter sein: Dienstag schlief er selig ein, der Sarg war schon gehobelt, da springt er auf und popelt. Wir bogen vom Palazzo Barberini nach links in eine Sackgasse, Gogol stimmte ein kleinrussisches Trinklied an, verfiel am Ende gar in einen Tanzschritt und fuchtelte mit seinem Regenschirm so gewagt in der Luft herum, dass keine zwei Minuten später nur noch der Schirmknauf in seiner Hand steckte, der Rest war beiseitegeflogen. Nachts weht ein schwülwarmer Wind, der die Fontänen krumm biegt. Womit hatte dieses fetzchen Luft in Afrika Berührung, frage ich mich? Rettender Retter, red netter! Ton tut not. Mücken sind Misanthropen.“
Daß man den rasenden Retter, der netter redet, von hinten wie von vorn lesen kann, hört man nicht so gut beim Hören. Ich erwähne es nur kurz als Beispiel dafür, daß der Dolmetsch Andreas Tretner für jeden russischen Topf einen deutschen Deckel findet. Also auch für die vielen Redewendungen, Merksätze und verballhornten Volksweisheiten, die hier wiederauferstehen und dafür sorgen, daß darin das komische Sprachregister nicht zu kurz kommt. Und weil eine allzu feierliche Laudatio diesem Roman Unrecht täte, soll es hier das letzte Wort haben: „Wer möchte unter Kohlköpfen König sein? Besoffen schlägt der Bauer sich gern mit dem Herrn. Ist der Bauer nicht mehr blau, fürchtet er die eigne Sau.“ Lieber Michail Schischkin, lieber Andreas Tretner, im Namen der Jury herzlichen Glückwunsch zum Internationalen Literaturpreis 2011!

Berlin, Haus der Kulturen der Welt
29. Juni 2011