Nur der Fortschritt

Frédéric Jaeger, Nino Klingler

Nur der Fortschritt, © Frédéric Jaeger

Wen interessiert schon das Anthropozän, wenn die Sonne scheint, wenn ein Fußball rollt, wenn zwei Männer flirten? Der politische Gefangene Olo muss vor Kamelen sprechen, wenn er freigelassen werden will. Aber sie hören einfach nicht zu. Die Wärter kicken unbekümmert, nur Yegussa, der Torwart, wird hellhörig. Wovon erzählt Olo da, wenn sich seine Stimme hebt? Warum spricht er mit einer solchen Verachtung von der Natur? In Molussien hat ein Sturm gewütet und alle Ordnung durcheinandergebracht. Die Herrscher sind verwirrt, die Unterdrückten wittern ihre Chance. Vielleicht können sich sogar Wärter und Häftling lieben. In der Nacht ist Olo frei, per Dating-App ist Yegussa schnell gefunden. Dem Cruisen steht nichts mehr entgegen. Außer das Anthropozän. Olo und Yegussa können sich einfach nicht helfen. Statt obszön, simsen sie sokratisch und kommen ins Grübeln: Geo-Lokalisation macht Liebe ist Fortschritt? Kann der Mensch mit seinen Erfindungen noch mithalten? Wo Unkraut über Signalmasten wuchert, schweigen die Smartphones. Doch kaum berühren sich die Körper, droht schon die nächste Diskussion. Wer denkt im Unterholz noch an Sex, wenn es die Natur zu schützen gilt?

Nur der Fortschritt setzt zwei Menschen in eine Beziehung zum menschengemachten Erdzeitalter. Basis unserer dreiteiligen philosophischen Web-Serie sind Texte des jüdischen Intellektuellen Günther Anders’, die bereits in den 1930er Jahren wesentliche Thesen der Anthropozän-Debatte formulierten. Jede Episode besteht aus zwei parallel ablaufenden Webvideos. So erfolgt eine Gegenüberstellung von Bildern und Gedanken: Im linken Video wird jeweils eine Fabel aus Anders’ Roman „Die molussische Katakombe“ dramatisiert, rechts werden diese fantastischen Parabeln durch assoziative Bild- und Textkollagen herausgefordert. Auf der Suche nach dem richtigen Referenzrahmen bietet jede Ebene Ablenkung von der anderen: die Liebe vom Anthropozän, der Ton vom Bild, Rechts von Links. Gerade weil sich Gedanken und Emotionen unablässig ins Gehege kommen, finden wir zur menschlichen Dimension des Anthropozäns. Die User sind eingeladen, mitzuspielen und ihre Präferenzen zu setzen. Folgen sie Anders’ mahnenden Worten, den lustvollen Blicken oder den Reizen der Natur?

Frédéric Jaeger arbeitet als Filmkritiker und Medienpädagoge und ist zudem als Dokumentarfilmautor, Cutter und Produzent tätig. 2013 gründete er die Filmproduktionsfirma Empirik und wurde Mitglied im Vorstand des Verbands der deutschen Filmkritik.

Nino Klingler ist freischaffender Filmkritiker, Kameramann und Cutter mit Wohnsitz in Berlin. Für das Jahr 2014 hat er im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Preises ein Stipendium der MFG-Baden-Württemberg zum Verfassen von Filmkritiken erhalten.