Laudatio zur Verleihung des Internationalen Literaturpreises 2019 an Fernanda Melchor und Angelica Ammar

Von Robin Detje

Ich bin überfordert. Alles andere wäre gelogen.

Ich glaube, wir waren in der Jury von der Saison der Wirbelstürme alle überfordert, haben alle gestockt und eine Weile nicht weiterlesen können. Und doch haben wir den Preis mit großer Entschlossenheit an dieses Buch und seine Übersetzung vergeben, gegen wirklich ungewöhnlich starke Konkurrenz.

Das ist vielleicht ein bisschen auch ein Bekenntnis zur Überforderung als literarisches Qualitätskriterium: Was sollen wir denn mit einer Literatur, die uns nicht überfordert? Was haben wir von der Welt in den nächsten Jahrzehnten denn anderes zu erwarten, als Überforderung, und wie sollte eine Literatur, die uns nicht überfordert, so einer Welt gerecht werden? Warum sollten wir einer Literatur, die uns nicht überfordert, noch vertrauen?

„Das ist der Ausgang aus diesem Loch.“ So lautet der letzte Satz des Romans, dieser Chronik eines Todes, der immer wieder neu angekündigt und neu verhandelt wird. Das Loch ist die Welt, in dem die Romanfiguren leben. Sie sind, wie ein vorangestelltes Zitat des mexikanischen Schriftstellers Jorge Ibargüengoitia nahelegt, fiktiv. Aber „einige der hier erzählten Begebenheiten sind real“. Die Autorin spielt reale Begebenheiten mit ihren Romanfiguren noch einmal durch.

„Das ist der Ausgang aus diesem Loch“, diese Verheißung kommt ganz am Schluss, weil es – aus unserer Welt ebenso wie der Welt des Romans – lebendig keinen Ausgang gibt. Es ist ein Totengräber, der hier begütigend zu Leichen spricht, verstümmelten, schrecklich zugerichteten Leichen zum Teil, und es ist ein Stern am Firmament, den er ihnen als Ausweg empfiehlt. Mehr kann er nicht für sie tun, und er hat Angst, dass sie wiederkommen, wenn er ihnen keinen Ausweg zeigt.

Dann würden sich die an einem Mangel an Nahrung oder Liebe Verreckten, die Zerstückelten, die Niedergemetzelten mischen mit den Verreckenlassern, Zerstücklern und Niedermetzlern, und dann hätten sie selbst noch einmal Gelegenheit, ihre Mörder*innen verrecken zu lassen, zu zerstückeln oder niederzumetzeln.

Es gibt keine reinen Opfer in diesem Buch, nur auf zu engem Raum zusammengepferchte Menschen, die von ihren Trieben und Affekten, von ihren Ängsten und ihrem Aberglauben herumgeschleudert werden, die Gewalt erleben, sich in Gewaltfantasien flüchten oder gleich in Gewalt. Denn Gewalt schafft für einen kurzen Augenblick klare Verhältnisse, sie schafft Erleichterung und setzt einen Punkt.

Das Dorf La Matosa, in dem dieser Roman spielt, liegt in Mexiko in der Nähe von Veracruz, und dort gibt es eine Hexe, auf die die Dorfbewohner*innen ihre Ängste und Hoffnungen projizieren und die sie damit überfrachten, bis die Hexe ermordet aufgefunden wird. Der Roman spielt im 21. Jahrhundert, die Szene ist eine archaische Welt, wie sie die Entstehung der Stoa befördert haben muss, die Hoffnung an Freiheit von Leidenschaften und Gelassenheit als Grundlage der Kultur.

Alle Gefühle, alle Affekte sind gleich heftig, die Liebe ist heftig, die Angst ist heftig, die Mordlust ist heftig, und die Angst hilft der Liebe, in Mordlust umzuschlagen. Die Romanfiguren sind den eigenen Gefühlen ausgeliefert wie dem Wetter, sie arbeiten sich durch sie hindurch, sie wollen fort, ihrem Dorf entkommen, diesem Loch entkommen, sich selbst entkommen, sie humpeln ihren Trieben hinterher, wollen nicht dorthin, wo die Triebe schon sind, und müssen es doch, und sie hinterlassen dabei eine Spur der Verwüstung.

Es sind, eher zufällig, Zentrifugalkräfte der Ölindustrie, denen die Romanfiguren in ihrem Dorf ausgesetzt sind, der Weltmärkte, und die Weltmärkte sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, Kultur haben. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass die Menschen, die sie verbrauchen, nicht verrecken. Und sie halten sich dabei selbst für hoch kultiviert.

Die Saison der Wirbelstürme ist kein Roman, der sich Kapitalismuskritik auf die Fahnen geschrieben hat. Aber er verdient diesen Preis trotzdem als politischer Roman. Hier wird auf schmerzhaft intensive Weise ein Notstand beschrieben, ohne dass dieser Notstand jemals explizit benannt wird.

Fernanda Melchors Romanfiguren haben keinen Zugang zu Kultur, keinen Zugang zu Bildung, keinen Zugang zu dem Geld, das ihnen beides verschaffen könnte. Sie haben keine Möglichkeit, sich aus ihrem Loch zu befreien und in Würde zu leben. Und: Es ist eine weit entwickelte, hoch komplizierte Zivilisation, die diese Menschen in diesen vorzivilisatorischen Zustand zurückgestoßen hat und sie dort gefangen hält.

Eine zivilisierte Welt jenseits des mexikanischen Dorfes La Matosa kommt im Buch nicht vor. Verantwortliche für das Elend dort gehören nicht zum Personal und werden von der Autorin nicht benannt. Mitten in ihrem ultradichten Roman klafft eine gigantische Leerstelle. Die Verantwortung, sie zu füllen, überlässt sie uns. Das ist unser Auftrag.

Diese Leerstelle des Romans ist im Grunde noch grausamer und noch schauriger als alle Schmerzen und alles Leid, die er uns so mitleidlos vor Augen führt. Und gleichzeitig gilt im Grunde, dass die für all diese erzählten Grausamkeiten Verantwortlichen über ihr Fehlen, ihr Nicht-Vorkommen realistisch beschrieben worden sind. So agieren sie ja im wirklichen Wirtschaftsleben: indem sie sich ihrer Verantwortung durch tausend Schlupflöcher entziehen und sich unsichtbar machen.

Fernanda Melchor hat den Roman der Armut im Globalkapitalismus des 21. Jahrhunderts geschrieben, den Roman aus Armut geborener Gewalt gegen Frauen, gegen Homosexuelle, gegen Schwächere. Den Roman des gnadenlosen Kampfes der Schwächsten gegen noch Schwächere und gegen sich selbst. Den Roman einer Zerstörungskraft, der es egal ist, ob sie zur Selbstzerstörung wird, weil der Unterschied nicht mehr wichtig ist.

In der Mitleidlosigkeit, mit der Fernanda Melchor diese Figuren beschreibt, nicht nur in ihrer Verlorenheit, auch in ihrer ganzen Grausamkeit und Bösartigkeit, verbirgt sich eine höhere Form des Mitleids, verbirgt sich die eigentliche Barmherzigkeit. Genauigkeit ist eine Form der Liebe. Erst nicht hinsehen wäre wirklich unbarmherzig. Diese Romanfiguren sind auf Suche nach Würde, auf der Suche nach dem Glück, und ihre Armut treibt sie ins Verbrechen, in die Polizeifolter, in die Grube des Totengräbers: „Das kleine Licht, das aussieht wie ein Stern? Dorthin müsst ihr gehen, erklärte er ihnen, das ist der Ausgang aus diesem Loch.“

Die Autorin macht die Lage auch für uns ausweglos: Sie schlingt uns in lange, nicht enden wollende Sätze ein, sie knotet uns in ihre Erzählung hinein, bis auch wir nicht mehr wissen wohin. Sie gibt dem Unerträglichen eine Form: Die Schönheit dieser Sätze machen den Schrecken dessen, was sie erzählen, – fast – ganz erträglich.

Aber wer diesen Text als Übersetzer*in aufschlägt, lässt alle Hoffnung fahren. Endlose Satzperioden, kaum ein Absatz, keine Dialogpassagen, die einem eine Atempause schenken. Ein Textfluss von immer gleichbleibender Dichte, der gleichzeitig unter das Mikroskop gelegt und vom All aus betrachtet werden muss, vom Stern des Totengräbers aus vielleicht, damit weder die feinen Details verlorengehen, noch die Gewalt des Ganzen. Das kann man nur übersetzen, wenn man Maulwurf und Adler zugleich ist.

Angelica Ammar hat in ihrer Übersetzung einen Wort- und Bedeutungsteppich ausgebreitet, dem wir lesend immer vertrauen können und dessen Festigkeit nie nachlässt. Das ist eine ungeheure Leistung. Sie musste ihren Teppich weit aufspannen, er umfasst alle menschlichen Leidenschaften, auch die schmutzigsten – obwohl es reinliche Leidenschaften vielleicht sowieso nicht gibt. Sie musste dabei leider ins Deutsche übersetzen, eine Sprache, deren Fluchkultur ein wenig schwach auf der Brust ist und die sich mit lustvollen, geradezu inbrünstigen Verwünschungen schwer tut. Und bei Fernanda Melchor wird wahrlich inbrünstig geflucht.

Unter vielen Herausforderungen dieses Originals ist Angelica Ammar mit großer Eleganz und Souveränität hindurchgetaucht, immer in vollem Verständnis des Textes, und das ist die einzig richtige Methode, wenn man vermeiden will, dass plötzlich die Übersetzung selbst als schauturnerische Anstrengung im Vordergrund steht. Das Übersetzen ist bei ihr ein auf wunderbare Weise unauffälliger Leistungssport.

Große Literatur versteckt irgendwo auch immer ein paar Metaphern für die eigene Methode, verewigt sie, manchmal unbemerkt, in einer dunklen Ecke. In Saison der Wirbelstürme wird gegen Ende enthüllt, wer die Hexe ermordet hat. Die Polizei verdächtigt und foltert den Täter und wirft ihn in eine Zelle zu anderen Gefolterten, die anderer Verbrechen verdächtig sind. Ein Mitgefangener zeigt ihm etwas:

„Sein Blick folgte dem mageren Zeigefinger des Typen, der auf die Zellenwand zeigte, vor der Brando saß und in die Namen und Spitznamen und Daten und Herzen und Schwänze und Mösen mythologischen Ausmaßes und alle möglichen abartigen Szenen eingeritzt worden waren, von denen sich eine aus roten Linien zusammengesetzte Zeichnung des Teufels abhob. Wie hatte er den übersehen können, als er in die Zelle kam? Diesen riesigen Dämon, der wie ein Herrscher über die Zelle wachte.“

Es fällt nicht schwer, in der Zellenwand ein Bild für den ganzen Roman zu sehen, der Namen und Spitznamen und Daten und Herzen und Schwänze und Mösen mythologischen Ausmaßes und alle möglichen abartigen Szenen enthält, und Fernanda Melchor lässt sie alle gleichermaßen gelten, in ihrer Lust und in ihrem Schmerz. Und es gefällt mir, die Zeichnung des Teufels als Selbstporträt der Autorin zu deuten, dieser riesigen Dämonin, die wie eine Herrscherin über die Welt dieses Romans wacht. Wie sollte man die Autorinnenschaft über einen Roman auch besser beschreiben?

Nichts fürchten wir mehr als die nackte Wahrheit. Niemanden hassen wir mehr, als die Überbringerin der nackten Wahrheit. Wir verteufeln sie oder bringen sie um. In Fernanda Melchors Danksagung tauchen die Journalisten Yolanda Ordaz und Gabriel Huge auf, die 2011 und 2012 in Mexiko gefoltert und geköpft wurden, aus Angst, sie könnten die nackte Wahrheit sagen. Wer die Wahrheit sagen will, kann schnell in Lebensgefahr geraten. Gewalt stellt Machtverhältnisse klar, schafft Erleichterung und setzt einen Punkt.

Sich selbst als Teufelin an die Wand zu malen, als Dämonin, als Herrscherin über Daten und Herzen, kommt mir klug vor im Angesicht solcher Gewalt.

Wir vergeben heute den Internationalen Literaturpreis in der von allen Reiseführern überschätzten Hauptstadt eines Landes auf einem kleinen, zunehmend unbedeutenden Kontinent, dessen historische Selbstüberschätzung mythologische Ausmaße hat und zu allen möglichen abartigen Szenen geführt hat. Hier in unserer kleinen Hauptstadt haben wir das Privileg, vor solcher Gewalt ungläubig und entrüstet den Kopf zu schütteln, als könnten wir sie mit diesem Kopfschütteln wegwischen. Wir müssen uns nicht damit auseinandersetzen, auch wenn wir uns in unserer Güte manchmal dazu herablassen, es zu tun.

Wir vergeben den Internationalen Literaturpreis an ein Buch – und seine Übersetzung –, das Gewalt, reale Begebenheiten, in eine Form bringt und sie uns zugleich ungebremst zumutet, in fast unerträglicher Masse und Intensität. An ein Buch – und seine Übersetzung –, das uns in eine Gegenwart zwingt, die auch unsere Gegenwart ist. Eine Gegenwart, in der wir uns Herablassung gegenüber der Gewalt auf fernen und bedeutenderen Kontinenten nicht mehr leisten können.

Wir wünschen uns, dass der Preis die dämonischen Kräfte dieser Autorin stärkt und gleichzeitig als guter Gegenzauber der Aufklärung alle abschreckt, die ihr Böses wollen.