Tafeln 40 bis 49: Beispiel 1: Bewegung

Ein Rundgang in vereinfachter Sprache

Tafel 45, Ausschnitt aus: Domenico Ghirlandaio Geburt Johannes des Täufers, 1485 – 1490, Fotos: Wootton / fluid; Courtesy Warburg Institute

Das Besondere an den Bildern der Renaissance war für Aby Warburg ihre Lebendigkeit. Heute ist es vielleicht schwer vorstellbar, was an den Bildern so neu und anders war. Viele Zeitgenossen von Warburg sahen in den Bildern der Renaissance vor allem Schönheit und Harmonie. Aby Warburg jedoch wollte zeigen, dass in den Bildern ein wilder, machtvoller Geist steckt. Gerade die Nymphe war dafür ein passendes Beispiel. Denn die ins Bild stürmende Figur verlieh den sonst etwas steifen Bildern Bewegung und Dramatik.

Warburg verzichtete der Einfachheit halber auf eine fallweise Unterscheidung in rasende Mänade und schreitende oder tänzelnde Nymphe. "Bewegte Frauen", ob Dienerin oder Göttin, fielen für ihn alle unter die Pathosformel Nymphe. Diese Pathosformel kann nicht nur in Darstellungen aus der antiken Sagenwelt entdeckt werden, wie in Botticellis „Geburt der Venus“. Sie findet sich auch in christlichen Bildern wieder. Auf Tafel 45 und 46 zum Beispiel zeigt Aby Warburg Wandmalereien von Domenico Ghirlandaio (1448 – 1494) aus einer Kirche in Florenz.

Auf diesen Wandmalereien trägt eine namenlose Dienerin einen Früchtekorb auf dem Kopf. Sie erscheint in einer Szene aus der Bibel, die die Geburt des heiligen Johannes zeigt. Johannes ist derjenige, der Jesus getauft haben soll. In der gleichen Kirche ist auch die Prinzessin Salome auf einer Wandmalerei zu sehen. In der christlichen Sagenwelt war sie eine Tochter des Herrschers Herodes. Ihre Mutter brachte sie durch einen Trick dazu, mit einem Tanz die Hinrichtung von Johannes zu bewirken. Eine sehr tragische Geschichte also. Kein Wunder, dass der Maler Domenico Ghirlandaio dafür eine Pathosformel aus der Antike verwendete. So konnte er die Geschichte auf seinen Bildern sehr lebendig erzählen. Salomes Gewänder wehen in der wilden Bewegung des Tanzes – ganz ähnlich wie bei der Mänade.

Tafel 47, Sandro Botticelli, Judiths Rückkehr nach Bethulia, ca. 1472, Fotos: Wootton / fluid; Courtesy Warburg Institute

In der Renaissance glichen die christlichen Darstellungen immer stärker den Bildern aus der Antike. Die Kirche konnte sich nicht mehr der neuen Zeit verweigern und ihrem Bedürfnis nach mehr Freiheit in der Darstellung von Menschen auf Bildern.

Ähnlich wie Salome manchmal mit einem Säbel gezeigt wird, erscheint eine weitere weibliche Figur aus der Bibel mit einem Messer: Die fromme Judith, die mutig dem tyrannischen Eroberer Holofernes den Kopf abschlägt. Die beiden starken Frauenfiguren sind so häufig und so ähnlich dargestellt, dass es schwerfällt, sie auseinander zu halten. Das Bild rechts unten auf der Tafel 46 stammt wie die Venus von Sandro Botticelli. Darauf trägt Judiths Dienerin keinen Früchtekorb, sondern den Kopf von Holofernes.

Die Form bleibt ähnlich, aber die Erzählung ist eine andere: aus dem Naturgeist Nymphe wird eine Dienerin, und aus der tragischen Salome wird die Heldin Judith. Diese Verschiebung der Bedeutung nennt Aby Warburg „Inversion“ (das lateinische Wort für Umkehrung).