Vorgeschichte: Aby Warburg und der Bilderatlas Mnemosyne

Ein Rundgang in vereinfachter Sprache

Überall um uns herum sind Bilder: im Internet, im Fernsehen, in der Zeitung, und draußen auf Postern und Plakatwänden. Viele der Bilder haben für uns eine große Anziehungskraft, denn wir verstehen sie ohne Erklärung. Sie ähneln anderen Bildern, die wir bereits kennen. Auch in der Kunst gibt es bestimmte Darstellungsformen, die seit Jahrtausenden immer wiederkehren, seien es Menschen, Sagengestalten oder Dinge. Was macht diese Darstellungen so interessant, dass sie immer wieder auftauchen?

Aby Warburg war ein deutscher Kunst- und Kulturwissenschaftler, der Ähnlichkeiten und Verbindungen zwischen Bildern erforschte. Seine letzte Arbeit erzählt davon, der Bilderatlas Mnemosyne. Er ist jedoch keine Erzählung in Worten. Aby Warburg lässt die Bilder selbst sprechen – als eine Art Bildtext. Diesen sehen wir vor uns in der Ausstellung. Er besteht aus ungefähr 1000 Bildern, die Warburg auf vielen Tafeln angeordnet hatte.

Aby Warburg, 1925 , © bpk / Rudolf Dührkoop

Aby Warburg und der Bilderatlas Mnemosyne

Aby Warburg wurde 1866 geboren. Er kam aus einer reichen Bankiersfamilie und lebte in Hamburg. Bis zum Ende seines Lebens im Jahr 1929 arbeitete er an seiner eigenen Bibliothek: die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, abgekürzt K.B.W.. Aby Warburg machte diese Bibliothek zu so etwas wie einer „Denkfabrik“. Hier konnten Interessierte Bücher lesen, Ausstellungen sehen und Vorträge wichtiger Wissenschaftler hören. Warburg selbst arbeitete in der Bibliothek an seiner Geschichte der Bilder, dem Bilderatlas Mnemosyne.

Aby Warburgs Geschichte der Bilder beginnt vor mehr als 3.000 Jahren und geht bis in seine damalige Gegenwart, die 1920er Jahre. Sie handelt hauptsächlich von der Kunst in Europa, also nur von einem kleinen Teil der Welt.

Warum schrieb Warburg nicht einen Text, sondern wählte die Form eines Atlas? Ein Atlas ist ein Buch mit Landkarten, und der Bilderatlas ist wie eine Landkarte von Warburgs Kunstgeschichte. Er besteht dabei hauptsächlich aus Fotos von Kunstwerken. Fotos zeigen einen Augenblick in der Vergangenheit und halten so Erinnerungen fest. Mnemosyne ist der Name der griechischen Göttin der Erinnerung. Wir können also den Bilderatlas als Gedächtnis der Bilder verstehen.

Aby Warburg hat seinen Atlas nicht in einem Text erklärt. Daher ist jede Beschreibung der Bilder nur eine von vielen möglichen Deutungen, selbst wenn sie von Experten und Expertinnen kommt. Dabei gibt es kein richtig oder falsch. Jeder begreift die Bilder und ihre Zusammenhänge anders. Welche Verwandtschaften sind in den Bildern zu entdecken? Welche Motive ähneln sich? Da gibt es vergleichbare Körperbewegungen, Gesichtsausdrücke oder Gesten: beispielsweise im Schreck erhobene Arme, vom Wagen stürzende Männer oder ins Bild laufende Frauen. Diese wiederkehrenden Motive nannte Warburg „Pathosformeln“ (vom griechischen Wort pathos = Leidenschaft).

Mit dem Begriff der Pathosformel betont Warburg, dass man den Menschen auf den Bildern ansieht, was sie fühlen. Das ist nicht selbstverständlich in der Kunstgeschichte. In vielen Jahrhunderten war es Mode die Menschen möglichst ausdruckslos darzustellen. Aby Warburg hat aber beobachtet: Wenn zum Beispiel Aufgeregtheit, Trauer oder Nachdenklichkeit gezeigt werden sollte, dann haben Künstler und Künstlerinnen dafür oft die gleichen Körperhaltungen benutzt, über die Jahrhunderte hinweg.

Eben so, als gäbe es Formeln für die Darstellungen dieser Gefühle. Zum ersten Mal wird das bei Bildern deutlich, die zwischen 500 vor Christus und 500 nach Christus im Mittelmeerraum entstanden sind. Man nennt diesen Zeitraum die Antike (vom lateinischen Wort antiquus = alt). Die Figuren von damals wandern sozusagen durch die Zeit und wechseln dabei lediglich ihre Kleider nach der jeweils aktuellen Mode.

Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Heilwigstr. 116, Hamburg Februar 1927, Foto: Anonym

Dieser Rundgang zeichnet den Weg einiger Figuren und Motive nach, entlang der zeitlichen Abfolge auf den Tafeln. An ihren Beispielen können wir ablesen, wie sich das Weltbild, der Glaube und die Kunst über Jahrtausende hinweg verändert haben. Drei Jahre nach Aby Warburgs Tod 1929 hatten seine Mitarbeiter Angst, dass die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg aus politischen Gründen geschlossen werden würde.

Damals hatte die Nationalsozialistische Partei Deutschlands, die NSDAP, unter ihrem Vorsitzenden Adolf Hitler Macht erlangt. Die NSDAP hetzte in ihren Reden und Schriften gegen jüdische Menschen, und Aby Warburg war Jude gewesen. Deshalb brachten Aby Warburgs Mitarbeiter nach seinem Tod ungefähr 60.000 Bücher und 15.000 Fotos von Hamburg nach London, um Warburgs geistiges Erbe zu sichern.

Vor diesen Umzug waren alle Bilder von ihren Tafeln genommen und einzeln in das Bildarchiv der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg eingeordnet worden. Die Bibliothek wurde in London als Warburg Institute wiedereröffnet. Das Institut gibt es noch heute, und die Ausstellungsmacher haben die alten Bilder dort wiedergefunden.

Diese Bilder wurden hier im HKW zum ersten Mal seit 1929 wieder auf Tafeln so aufgehängt, wie Aby Warburg das in seiner Bibliothek getan hatte. Genau wie damals sind die Tafeln mit schwarzem Stoff bezogen. Auf ihnen verteilte Warburg die Bilder wie Sterne am dunklen Himmel. Sternbilder nennt man auch Konstellationen (vom lateinischen Wort stella = Stern).

Auf den Tafeln in der Ausstellung sieht man solche Konstellationen, die Warburg zusammengestellt hat. Dadurch konnte er Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Bildern aufzeigen, die mit großem zeitlichen Abstand und in unterschiedlichen Ländern entstanden sind.