Kuratorisches Statement

Um die komplexen Transformationsprozesse des Anthropozäns versteh- und gestaltbar zu machen, bedarf es neuer Formen der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Kunst und bürgerschaftlichem Engagement. Deshalb hat das HKW 2013 in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte und weiteren Partner*innen weltweit ein Anthropocene Curriculum ins Leben gerufen, einen stetig wachsenden Korpus aus experimentellen Forschungsfragen und -designs, sowie Formaten gemeinschaftlicher und transdisziplinärer Wissensproduktion und -vermittlung. Ausgangspunkt für das Anthropocene Curriculum ist die Einsicht, dass jedem Curriculum bestimmte Kontexte, Machtstrukturen und Werte zugrunde liegen, die wandel- und anfechtbar sind. Daher gilt es insbesondere in Zeiten des Umbruchs, die eigenen Ziele und Absichten in den Blick zu nehmen.

Das Anthropozän stellt uns in dieser Hinsicht vor besondere Herausforderungen, da es als umfassendes Konzept versucht, die Auswirkungen von ideologischen, wirtschaftlichen und politischen Prozessen auf das Erdsystem zusammenzufassen. Allerdings werden diese Auswirkungen je nach Ort und Kontext unterschiedlich erfahren, so dass Art und Umfang von Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten davon abhängig sind, wo die Auswirkungen sich ereignen und wer an diesen Ereignissen teilhat. Doch diese Konstellationen aus Raum, Ort und Handlungsmöglichkeiten, die jeweils einen spezifischen Kontext bilden, sind wiederum Teil von anderen Konstellationen. Dem ansteigenden Meeresspiegel können nationale Grenzen egal sein. Den Menschen, die vor Flut und Überschwemmung flüchten müssen, kaum.

Wie mit diesem Zusammenspiel der Ebenen umgegangen wird, hängt davon ab, wie wir Probleme verstehen und verorten, davon, welche Absichten und welche Wertvorstellungen im Spiel sind. Also gilt es, Wissensproduktion darauf hin zu befragen, welche Werte ihr zu Grunde liegen und welche Ungleichheiten und Voreingenommenheiten daraus folgen. Jedes Curriculum ist eng verwoben mit Macht, mit Kontexten und Wertesystemen, die anfechtbar, widersprüchlich und miteinander verknüpft sind. Es gilt also weniger, die Topografien des Anthropozäns zu beschreiben als seine Topologien zu verstehen –- darum, welche Beziehungen das neue Erdzeitalter herstellt, statt um die lokalen Katastrophen, die es hervorruft.

The Shape of a Practice ist ein Versuch, diese Kontexte zu verstehen und auszuhandeln. Dafür werden sich etwa 100 internationale Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Aktivist*innen über Feldforschungen austauschen, die entlang spezifischer Praktiken des Wissens und Handelns konkrete Zugänge zum Anthropozän suchen. Über den Zeitraum von einer Woche hinweg werden diese Feldforschungen präsentiert und diskutiert, um gemeinsam Kontexte, Absichten und Praktiken so miteinander in Verhältnis zu setzten, dass daraus übergreifende und vielstimmige Anliegen entwickelt und kollaborativ bearbeitet werden können.

Die jeweiligen Feldforschungen nehmen ein spezifisches Verhältnis von lokalen und globalen Prozessen in den Blick, während sie ihre eigenen Methoden, Werkzeuge und Wissenstraditionen reflektieren. Etwa die Somankidi Coura-Genossenschaft in Mali, die ihren Anfang als politische Organisation nahm und ihren Aktionsradius später zu Landwirtschaft, zu pädagogischen und archivarischen Praktiken ausgeweitet hat. Eine Analyse der Initiative zeigt, wie lokale, ökologische Anliegen sich mit den Arbeiter*innen-kämpfen zwischen Mali und Frankreich verbinden. Oder Cheorwon in Südkorea, wo über ein Renaturalisierungsvorhaben Naturschutz in der demilitarisierten Zone neu gedacht wird und somit Technologie, Geopolitik und Ökologie zusammengeführt werden.

Solche Verknüpfungen globaler und lokaler Prozesse sind wesentlich für ein differenziertes Verständnis des Anthropozäns, das zumeist entweder als planetarisches Konzept oder als sehr lokales Problem aufgefasst wird. The Shape of a Practice führt diese beiden Perspektiven zusammen, indem die verhandelten Feldforschungen konstant vor dem Hintergrund ihrer verschiedenen Maßstäbe und Beziehungen in den Blick genommen werden.

Vier Seminare (Communicating, Sensing, Archiving und Consensus Building) bilden den Rahmen, in dem die Ziele, Kontexte und Methoden der einzelnen Feldforschungen herausgearbeitet werden. Begleitet werden die Seminare von einem öffentlichen Programm, in dem verschiedene Aspekte der Feldforschungen vorgestellt und diskutiert werden.

The Shape of a Practice führt diese verschiedenen Fragen, Praktiken und Formate zusammen, um ein gemeinsames Lernen und Arbeiten zu ermöglichen, das die ungleiche Verteilung von Macht und Zugang weder leugnet noch hinnimmt und die Vielfältigkeit von Anliegen nicht überwinden möchte sondern voraussetzt. Ziel ist es, die öffentliche Diskussion über Ziele von Forschung und Wissensproduktion und ihren Zusammenhang mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen zu fördern. Gleichberechtigte Formen der Konsensfindung und gerechte Methoden der Vermittlung zwischen den verschiedenen planetarischen Dringlichkeiten des Anthropozäns sollen ermittelt und erprobt werden.

Konzept und Umsetzung: Katrin Klingan, Nick Houde, Johanna Schindler, Janek Müller, Neli Wagner und Anna Chwialkowska in Zusammenarbeit mit Carlina Rossée und Christoph Rosol