Canary Archives – Files of Dreams and Other Matters

Chto Delat

„Manchmal fragte ich mich, ob die Künste überhaupt irgendeinen Sinn haben. Das einzige, was mir einfiel, war etwas, das ich die Kanarienvogel-in-der-Kohlengrube-Theorie der Künste nenne. Diese Theorie besagt, dass Künstler*innen der Gesellschaft deshalb nützen, weil sie besonders sensibel sind. Sie sind supersensibel. Sie kippen um wie die Kanarienvögel in den giftigen Kohlengruben, lange bevor die robusteren Arten überhaupt merken, dass eine Gefahr droht.“
Kurt Vonnegut

Die Arbeit von Chto Delat nimmt das Bild des Kanarienvogels zum Ausgangspunkt, dessen Streben die Bergarbeiter in der Kohlengrube vor ansteigenden Kohlenmonoxidwerten warnt. Die Metapher beschreibt ein anthropozentrisches Verhältnis zur Welt, die gestörte Verbindung zwischen Mensch und Planet und die dringend notwendige, aber kaum noch verbreitete sinnliche Wahrnehmung von Bedrohungsszenarien. Die Gegenwart ist geprägt von vielfältigen lebensbedrohlichen Gefahren – lebensbedrohlich für Menschen genauso wie für alle anderen Wesen und auch für die Erinnerungen der Vorfahren.

In der heutigen Welt werden fortlaufend unterschiedlichste Signale über potenzielle Bedrohungen ausgesandt und empfangen. Aufgrund von diversen konkurrierenden Quellen und katalysierenden Mechanismen scheinen sich diese Signale aber zu widersprechen. Und weil sie sich schwer lösen lassen, führen die Widersprüche zu einem kollektiven Zustand der Unsicherheit und Angst.

Wo ist der Kanarienvogel, der uns erzählt, ob die Gefahr real ist? Und wo ist der Ausgang aus der Kohlengrube?

Das Kollektiv Chto Delat stellt sich vor, dass jede*r Beweise für ein riesiges Archiv von Bedrohungen liefert und dass dieses Archiv dann von Kanarienvogel-Forscher*innen analysiert wird, die den Grad der Bedrohung bewerten.

Träume sind für dieses Archiv der Bedrohung von wesentlicher Bedeutung, Träume als Eingangspforten zu einem unterschwelligen Archiv der Ängste und Wünsche. Für Canary Archives stellen alle Mitglieder von Chto Delat ihre jüngsten Träume zur Verfügung. Die Pandemie hat ein enormes unterbewusstes Erfahrungsreservoir im Umgang mit traumatischen Zuständen geschaffen. Vielleicht entwickelt sich hier eine wachsende Aufmerksamkeit für die menschengemachten Krisen – Klimawandel, steigende ökonomische Ungleichheit, die Virtualisierung menschlicher Erfahrung – indem ihre Folgen, über das begrenzte menschliche Sensorium hinaus, aufgezeigt werden.

Wie lässt sich ein Archiv der Träume nutzen, um die heutige Realität zu begreifen? Handelt es sich womöglich um eine einzigartige Möglichkeit, die dynamischen Veränderungen dieser Zeit zu verstehen?

Die Installation Canary Archives ist in einem Vogelkäfig realisiert und besteht aus einer Vier-Kanal-Videoinstallation. In einem der Videos erzählen die neun Mitglieder von Chto Delat von ihren Träumen und Geschichten über die aktuelle globale Situation. Zwei weitere Videos dokumentieren das Käfigleben von neun verschiedenartigen Kanarienvögeln und die Szene eines kollektiven Tanzes in der Dunkelheit. Ein nächster Kanal zeigt, wie der Lift eines Minenschachtes unter Tage hinabfährt. Der Klang von Vogelgezwitscher, Redebeiträge und die Geräuschkulisse der Mine verbinden die vier Kanäle in einer gemeinsamen musikalischen Komposition.

Mixed Media Installation, 2022