Kuratorische Einführung

Archive rekonstruieren auf materieller und struktureller Ebene fortlaufend eine geteilte Realität quer durch verschiedene Zeitlichkeiten. Archive schaffen also nicht nur Wissen über die Vergangenheit und Zukunft, sondern auch das historische und zukünftige Wissen in seinen sozialen, politischen und kulturellen Dimensionen. Der Verschränkung von Archiven mit hegemonialen Strukturen und Methoden der Wissensproduktion liegt dabei ein autoritärer Prozess zugrunde. Der Kongress und die Ausstellung The Whole Life. Archives & Imaginaries widmen sich alternativen archivarischen Praxen, um Archive nicht als geschlossene Einheiten autoritärer Wahrheit, sondern als Räume für kollektive Gegenforschungen zu Produktionsformen des Seins, Denkens und Wissens zu sehen. Inwiefern ändert sich dadurch die Bedeutung der Archive? Und welche sozialen und kulturelle Auswirkungen hat es?

Der Kongress und die Ausstellung entfalten sich anhand von drei zentralen Themen: Der Frage nach der Sozialität des Archivs, der Schnittstelle von digitaler Kultur und Strategien der Dekolonisierung sowie Archiven als möglichen Orten einer zukünftigen Wissens- und Realitätsproduktion. Die Themen stellen dabei keine separaten Sektionen dar, sondern sollen Anstoß geben für die Entwicklung von Verknüpfungen zwischen den einzelnen Beiträgen, Formaten und Diskussionen.

Die Sozialität der Archive fragt nach dem sozialen Umfeld und den kulturellen und politischen Ökosystemen von Archiven. Ziel ist es, den Einfluss von Archiven in sozialen Kontexten zu analysieren und gleichzeitig zu fragen, wie die soziale Realität und die vorherrschenden Denk-, Lern- und Lebensweisen im Archiv repräsentiert, dokumentiert und aufrechterhalten werden. Vor diesem Hintergrund wird das Archiv als sozialer Reflexionsraum betrachtet, der in zwei Formen analysiert werden muss: als Ort, der bestehende historisierte hegemoniale Narrative fortschreibt, und als Ort vergangener und potenzieller Opposition und Widerstände. Wie schließt Archivierung soziale Realitäten aus und wie kann das Archiv zu einem sozialen Raum werden? Wie dokumentiert das Archiv gesellschaftlichen Wandel und wie wird dieser sichtbar?

Mit der fortschreitenden Digitalisierung der Archive werden Archive grundlegende Bausteine der Komplexität digitaler Kultur. Die Gewalt kolonialer Geschichte ist eng mit Archivbeständen und ihren Weltsichten verknüpft. Die Massendigitalisierung bedeutet nicht, dass diese Verbindung plötzlich aufgelöst wird. Geschichte bleibt sowohl materielles Wissen als auch immaterieller Affekt. Wie lassen sich die gegenwärtigen Digitalisierungsprozesse von Museen und Archiven mit einer Auseinandersetzung über die Wissens- und Bedeutungsproduktion im Kontext institutioneller Archivierung verbinden? Wie kann der Gefahr einer unhinterfragten Perpetuierung von historischer und gegenwärtiger Unterdrückung im digitalen Raum begegnet werden?

Weil Geschichte über Jahrhunderte hinweg mithilfe der Archive erzählt wurde, rechnen archivierte Gesellschaften kaum mehr mit den radikalen Potentialen der Zukunft – auch nicht in Zeiten tiefgreifender Umbrüche. Doch angesichts der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gewalt, die die Welt nach wie vor prägt, wird deutlich, dass die Narrative der Vergangenheit überdacht werden müssen und das Archiv als solches ein Ort der zukünftigen Wissensproduktion ist. Das Archiv ist ein Raum, in dem spekulative Zukunftsgestaltung praktiziert werden kann, und zwar nicht, indem es von der Vergangenheit abgekoppelt wird, sondern sein Material in die bestehenden narrativen Mechanismen und Zirkulationen neu eingeschrieben wird. Dies impliziert eine direkte Auseinandersetzung mit den Beziehungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, um die historischen und gegenwärtigen Bedingungen der Optionalität zu beleuchten. Wie sehen diese Gegenstrategien aus, die zwischen Aktivierung der Archive und archivarischem Aktivismus navigieren, um alternative Bilder der Zukunft zu schaffen?

Im gesamten HKW untersuchen acht Installationen konkrete Archive mit jeweils eigenen Strategien und Methoden der künstlerischen Forschung. Die Arbeiten sind für The Whole Life. Archives & Imaginaries entstanden, bilden Ausgangspunkte für neue Perspektiven auf Bestände und Kontexte der Archive und zeigen in Form von konkreten Fallstudien neue Begegnungsmöglichkeiten auf.

Drei Desktop Compilations geben Einblick in laufende Forschungsprozesse des nomadischen Curriculums – eines experimentellen Ansatzes fortlaufender Forschung in unterschiedlichen Archivkontexten, der in den letzten Jahren von Teilnehmenden der Whole Life Academy entwickelt und angewendet wurde. Die Desktop Compilations dienen während der Ausstellungslaufzeit als Orte für Begegnungen, die die Materialien in verschiedenen Formaten aktivieren.

Das Kongressprogramm wurde kollaborativ entworfen und setzt sich aus verschiedenen diskursiven Formaten zusammen: Das Format der Microstory hinterfragt die großen Master-Narrative, die wesentlich mit archivarischen Kanonisierungsprozessen zusammenhängen. Das Programm im Auditorium widmet sich den drei zentralen Themen in acht Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven in Form von performativen, klanglichen, dialogischen und disruptiven Beiträgen und Interventionen. Die Tiny Desk Sessions sind kollektive und objektbasierte Untersuchungen: Die Teilnehmenden und das Publikum versammeln sich um einen Tisch, der sowohl Infrastruktur für soziale Begegnung mit Archivmaterial als auch Recherchedisplay ist. Das Phantom-Kino im Foyer ist der Versuch, undokumentierte Geschichten sichtbar zu machen. Ausgehend von einer Ausstellung in den frühen 1990er Jahren und der Wiederversammlung ihrer Protagonist*innen widmet sich das umfassende Film- und Diskursprogramm der Politik von kollektiven und institutionellen Archivpraxen.

Das Projekt präsentiert parallel zum Veranstaltungsprogramm diverse Publikationen sowie die Online-Plattform Whole Life Repository, die Forschungsmaterialien in einer dynamischen Mappingstruktur zugänglich macht.