Audio-Essay, Präsentationen, Gespräch

Truth Measures

Fr 15.4.2016
19h
Englisch mit Simultanübersetzung ins Deutsche

Das Ticket beinhaltet den freien Eintritt zur Ausstellung Nervöse Systeme am 15.4. zwischen 18 und 19 Uhr.

Truth Measures, © Nina Jäger 2016

Daten, Evidenz, Wahrheit – diese Grade des Faktischen bilden ein verflochtenes Referenzsystem, in dem soziales und juridisches Wissen etabliert und aufrechterhalten wird. Gleiches gilt für die Techniken und Technologien von dessen Einholung und Erläuterung.

Wie konstituiert sich faktisches Wissen in und durch die Technosphäre? Ist Wahrheit messbar? Und welche Maßnahmen und Maßgebungen gibt es, um Rechtmäßigkeit, Fakten und Vernunft zu identifizieren, zu konstruieren und zu beweisen? Der Abend untersucht, wie das Konzept rechtlicher Wahrheit und Wahrheitsfindung an die technische Produktion von Gewissheit gekoppelt ist – besonders an die ausgefeilten Mittel und Handhabungen, durch die sich Wahrhaftigkeit zeigen soll. In einer Gegenwart, in der Quantifizierung allgegenwärtig ist, in der ökonomische wie staatliche Systeme auf eine Kultur exzessiver Zurschaustellung treffen und der menschliche Körper in staatlichen Verhörtechniken zum „Beweiskorpus“ wird, scheint Verifizierung eine Frage des richtigen Umgangs mit Daten zu sein.

Mit Lawrence Abu Hamdan, Keith Breckenridge, Melanie Gilligan, Brian Holmes, Susan Schuppli

19 h
Lawrence Abu Hamdan: Contra Diction: Speech Against Itself

Was sind die Wechselbeziehungen zwischen menschlicher Stimme, staatlichem Recht und dem Konzept der Gerechtigkeit in der Technosphäre? In Lawrence Abu Hamdans Live Audio-Essay werden eine Reihe akustischer Manipulationen und aufgenommener Samples eingesetzt, um das Konzept und die Praxis der Taqiyya zu erforschen – dem Recht, zu lügen, beziehungsweise dem Teil der islamischen Jurisprudenz, der es einer gläubigen Person erlaubt, im Falle der drohenden Verfolgung oder Staatenlosigkeit seinen Glauben zu leugnen oder andere, andernfalls illegale Taten zu begehen. Es ist eine Form der Kommunikation und politischer Praxis, durchgesetzt in abgelegenen Höhen, an den Rändern gescheiterter Staaten, in Zwischenzonenund an den Grenzen der Waffenruhe.Ausgehend von den Geschichten angeblicher Massenkonvertierungen der drusischen Minderheit durch wahhabitische Gruppen in Nordsyrien, untersucht Abu Hamdan, wie solch kleine Sprechakte helfen können, die Präzision des Sprechens, die vielfältigen Wege, stumm zu bleiben, und die der Stimme innewohnende Untreue neu einzuschätzen.

Keith Breckenridge: Biometrischer Kapitalismus: Infrastrukturen der Identifizierung und Kreditrisiko auf dem afrikanischen Kontinent im 21. Jahrhundert

Eine neue und einzigartige Art von Kapitalismus zeigt sich aktuell auf dem afrikanischen Kontinent. Staaten werden unter dem Druck von rapidem demographischen Wachstum, unlösbarer Grenzkonflikte, nationaler und internationaler Sicherheitsanforderungen und den Angeboten multi-lateraler Geldgeber sowie internationaler Datenverarbeitungskonzerne neu ausgerichtet. Viele dieser Faktoren führen zu erweiterten Formen von staatlicher Überwachung, wie sie weltweit üblich sind. Doch die ökonomischen und institutionellen Formen auf dem afrikanischen Kontinent nehmen dabei eine außergewöhnliche Rolle ein. Automatisierte biometrische Identifikationssysteme liefern den ehemals kolonialisierten Staaten eine scheinbar simple und kosteneffiziente Alternative zu den aufwendigen und teuren Projekten der Registrierung von Bürgern. In vielen afrikanischen Ländern erklären sich kommerzielle Bankunternehmen bereit, die Kosten zentralisierter biometrischer Einwohnerregister zu tragen, wobei sie die Entwicklung einer nationalen Identifikationsdatenbank und eines kommerziellen Kreditrisiko-Scoring-Apparates einkalkulieren. Diese Kombination zielt darauf ab, alle Bürger in probate Subjekte automatisierter Schuldenbewertung zu verwandeln.

20 h
Technosphärenwahrheit?
Gespräch mit Lawrence Abu Hamdan, Keith Breckenridge und Susan Schuppli, mit einem einleitenden Statement von Susan Schuppli

Hat die Produktion rechtlicher Wahrheit innerhalb und durch technische Umwelten und Konstellationen eine neue systemische Qualität erreicht? Wird in der Ausgestaltung von Beweiskörpern eine „technosphärische“ Wirkmacht sichtbar? Die Teilnehmer*innen der Diskussion unternehmen den Versuch einer Bestimmung der Fundamente staatlicher oder anderer regulativer Systeme, die „wahrhaftiges Wissen“ produzieren.

21 h
The Common Sense
Melanie Gilligan im Gespräch mit Brian Holmes

Technologien verändern die Menschen – ihre Gewohnheiten, ihr Verhalten, ihre Körper. Melanie Gilligans experimentell-narrative Science Fiction-Miniserie, die parallel in der Ausstellung „Nervöse Systeme“ zu sehen ist, erzählt die Geschichte einer Zukunftstechnik namens „The Patch“, einer Art Prothese, die es ermöglicht, die physischen Empfindungen und Emotionen einer anderen Person unmittelbar zu spüren. Nach einem die Arbeitsund sozialen Verhältnisse transformierenden Jahrzehnt versagen plötzlich die Netzwerke dieser Technologie, was zu massiver Desorientierung führt. Geist, Körper und Lebens- und Interaktionsweisen werden im kapitalistischen System zunehmend in und durch Technologien definiert und geformt. Doch was ist der Widerhall eines solchen körperlich und intim gewordenen Szenarios der Technosphäre? Wo liegt die spekulative und kritische Kraft seiner Vorstellbarkeit?