Gespräche

Sechs Perspektiven für eine „Praxis der Theorie“

Mit Norman Ajari, Petar Bojanić, Maria Chehonadskih, Karl Dahlquist, Maya Indira Ganesh, Nilüfer Göle, Alex Taek-Gwang Lee, Nasser Mufti, Antonio Negri, Nishant Shah, John Solomos, Chris Tedjasukmana, Kalindi Vora u.v.a.

Sa 17.3.2018
14–20h
Eintritt frei
Foyer, Auditorium
© Michael Busch

Wie aktuell sind die von Balibar und Wallerstein in Rasse, Klasse, Nation aufgeworfenen Fragen? Die Gesprächsreihe beruht auf einer Sammlung von Analysen und Reflexionen über die Spuren, die die Autoren mit ihrem vor 30 Jahren dialogisch entwickelten Essayband weltweit gelegt haben. Wie lässt sich die grundlegende Verstrickung von Rassismus, Nationalismus und Klassenverhältnissen vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen diskutieren? Wie wurden die Thesen des Buches erweitert, angepasst und kritisiert? Wie haben sie sich in verschiedenen lokalen Kontexten weltweit verschoben? Auf welchen Resonanzraum treffen sie in Indien, in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, in Russland, Südafrika, Südkorea und den USA? Auch geht es darum, was eine „Praxis der Theorie“ heute bedeuten kann: Wie lässt sich der Schnittpunkt von Theorie und Praxis als Akt der gesellschaftspolitischen Verhandlung wieder fruchtbar machen? Die Entstehung neuer Geopolitiken, die Diagnose eines Zustands der Postapartheid als globalisiertes Phänomen sowie die religiöse Aufladung der Politik in den unterschiedlichen lokalen Kontexten sind nur drei Fragen, die hier diskutiert werden.

14–15h, Foyer
Maya Indira Ganesh und Nishant Shah
Datendiskriminierung, Dystopie und die Zukunft der Staatsbürgerschaft
Die technische Überformung des Körpers und die Möglichkeiten digitaler Vernetzung verbinden sich häufig mit der Hoffnung auf eine Welt, in der Rassismus hinfällig geworden ist. Dieser Hoffnung steht die Beobachtung entgegen, dass sich rassistische Diskriminierungen auch in technologische Apparaturen einschreiben. Die Digitalisierung bietet nicht nur emanzipative Chancen, sondern auch neue und totale Verfahren der Selektion und Diskriminierung – was nicht zuletzt Fragen für Staatsbürgerschaft und Arbeitsrechte aufwirft. Wird der Rassismus im digitalen Zeitalter unsichtbar gemacht? Was bedeuten rassistische Konfigurationen in technischen Apparaturen für eine Kritik des gegenwärtigen Rassismus?

15–16h, Auditorium
Petar Bojanić, Nilüfer Göle und Ranabir Samaddar
Wohin entwickelt sich die Nation-Form? Soziale Gemeinschaften zwischen Populismus, Religion und Widerstand
Der Nationalismus formiert sich neu: Rechtspopulistische Rhetoriken beschwören Gemeinschaften, die sich auf die Ein- und Ausschlüsse der Nation und ein essenzialisierendes Kulturverständnis begründen. Kennzeichnend dafür ist nicht zuletzt der zentrale Stellenwert der Religion, der sie zum identitätsstiftenden Merkmal erhebt. Folgt der derzeitige Erfolg des Populismus den von Balibar und Wallerstein analysierten Mechanismen von Nationalismus und Rassismus? Oder haben wir es hier mit einem qualitativ neuen Phänomen zu tun? Weist der Bezug zur Religion auf eine Renaissance – oder eine Krise der Nation-Form?

15.30–16.30h, Foyer
Norman Ajari, Kelly Gillespie und John Solomos
Die Gegenwart der Apartheid – Rassistische Strukturen und ihre Kritik
Räumliche Segregation war ein Merkmal für den Rassismus der Apartheid in Südafrika. Als historische Form wurde die Apartheid bekämpft und überwunden, dennoch manifestieren sich rassistische Strukturen nach wie vor räumlich. In den letzten Jahren haben die Reaktionen auf Unruhen in den Vorstädten offengelegt, wie sehr staatlicher Rassismus auch hinsichtlich räumlicher Organisation auf koloniale Ideologien und Praktiken zurückgreift. Wie interagiert staatliche Segregationspolitik mit postkolonialen Strukturen? Und wie kann anti-rassistische Kritik diese Interaktion freilegen?

16.30–17.30h, Auditorium
Karl Dahlquist, Verónica Gago und Alex Taek-Gwang Lee
Die Zukunft der Klassenverhältnisse – zwischen Kompromiss und Widerspruch
Klassenkompromisse entschärfen gesellschaftliche Antagonismen. Zieht die Aufkündigung eines solchen Klassenkompromisses und die Krise des Wohlfahrtstaats zwangsläufig eine Renaissance rassistischer Exklusionsmuster nach sich? Wie verhält es sich in Gesellschaften, in denen der Klassenkompromiss nie von so großer Bedeutung war wie im europäischen Raum? Eine kritische Rassismustheorie muss vor dem Hintergrund der sozialen Stratifikation einer Gesellschaft Formen gesellschaftlicher Auseinandersetzung in den Blick nehmen und den Bezug zu neuen Rassismen analysieren.

17–18h, Foyer
Chris Tedjasukmana und Kalindi Vora
Soziale Reproduktion – Geschlecht und sexuelle Politiken
Nach Balibar und Wallerstein sind sich rassistische und sexistische Strukturen funktional ähnlich: Variierende Marktbedingungen verlangen nach angepassten Beschäftigungspraktiken und Ideologien, die ethnische und andere Ausschlüsse legitimieren. Gegenwärtig wird Reproduktionsarbeit in Form von Leihmutterschaft und „Care chains“ transnational ausgelagert. Eine solche Destabilisierung traditioneller Haushalts- und Familienstrukturen wirkt sich auch auf Geschlechter- und Klassenverhältnisse aus. Wie artikulieren sich unter diesen Vorzeichen rassistische und sexistische Exklusions- und Inklusionsmechanismen? Wie können Antirassismus und Antisexismus zusammen gedacht werden, wo können diese Kämpfe konvergieren?

18–19.30h, Auditorium
Maria Chehonadskih, Wang Hui, Nasser Mufti und Antonio Negri
Die Zukunft der Geopolitiken – Soziale Gegensätze und die Neu-Sortierung des Nationalstaatensystems
Im 21. Jahrhundert stellt sich die Frage nach der Beziehung von Nationalstaat und geopolitischen Strategien neu. Wie verhalten sich letztere zu innergesellschaftlichen Entwicklungen und Antagonismen gerade hinsichtlich neu erstarkender Nationalismen und Rassismen? Ist es möglich, durch die gemeinsame Analyse von Geopolitiken und staatlichen rassistischen Politiken die Frage nach der Spezifik des Rassismus im globalen Rahmen neu zu fassen? Bieten die gegenwärtigen Verschiebungen im Nationalstaatensystem auch den Spielraum, eine praktische Kritik rassistischer Strukturen neu zu positionieren?