Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Konzert

Hijacking Memory: Tag 3

Der Holocaust und die Neue Rechte

Sa 11.6.2022
Auditorium
10h
Eintritt frei

Auf Deutsch und Englisch, jeweils mit Simultanübersetzung in die andere Sprache

Weiteres Konferenzprogramm:

Do 9.6.2022
Fr 10.6.2022
So 12.6.2022

Foto: Peter Hapak (2021)

10–12.15h
The Hidden Agenda: The Holocaust in Israel between Tragedy and Strategy
Avraham Burg

In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens identifizierte sich der Staat Israel nicht mit dem Holocaust. Wie Tom Segev und andere Historiker*innen gezeigt haben, stand der Holocaust vielmehr im Widerspruch mit dem Bild, das der Staat vermitteln wollte: Juden und Jüdinnen waren Gestalter*innen der Geschichte und nicht ihr Gegenstand, waren Held*innen, keine Opfer. Erst später begannen bestimmte israelische Politiker*innen, den Holocaust als zentrales Beispiel für mörderischen Antisemitismus anzuführen, um jede Kritik an der Staatspolitik als antisemitisch zu diskreditieren. Der Vortrag untersucht die Geschichte der Strategien hinter diesem Prozess.

The Singularity Thesis and German National Identity
Omri Boehm

Um die aktuellen Kontroversen über die Einzigartigkeit des Holocaust zu verstehen, ist es notwendig die ursprüngliche Debatte aus den 1980er Jahren heranzuziehen. Entgegen der landläufigen Auffassung ging es bei dem „Historikerstreit“ nicht um die Frage nach der Einzigartigkeit des Holocaust, sondern um die Frage nach der deutschen nationalen Identität. Auschwitz als singuläres Verbrechen zu begreifen, war für Habermas et al. notwendig, um eine Rehabilitierung des deutschen Nationalbewusstseins als Ursprung für politische Normen zu verhindern. Dem setzten sie einen Verfassungspatriotismus entgegen. Boehm untersucht den BDS-Beschluss des Bundestages, das Verhältnis der Bundesregierung zum Internationalen Strafgerichtshof und den Umgang mit Amnesty International nach dem Apartheitsbericht. Er argumentiert, dass die Singularitätsthese vereinnahmt wurde, um zu verteidigen, was sie ursprünglich ablehnte: sie rehabilitiert das deutsche Nationalbewusstsein auf Kosten des Verfassungspatriotismus.

Antisemitism in History and Politics
Omer Bartov

Antisemitismus lässt sich nur über die Zusammenhänge zwischen seinen historischen Wurzeln und modernen Erscheinungsformungen begreifen. Weil auf antisemitische Argumente stets Gegenargumente folgten, hat der Anti-Antisemitismus eine ähnlich lange und facettenreiche Geschichte. Beide haben im Laufe der Zeit für verschiedene Menschen Unterschiedliches bedeutet, wurden wiederholt für politische Zwecke instrumentalisiert, und voneinander abhängig. Lange bevor es Antisemitismus als Begriff gab, spielten antijüdische Einstellungen eine Rolle dabei, wie Juden und Jüdinnen von anderen wahrgenommen wurden, wie sie mit der Welt interagierten und sich selbst wahrnahmen. Umgekehrt bekommt anti-antisemitische Rhetorik immer dann Aufmerksamkeit und Sichtbarkeit, wenn sie die Öffentlichkeit von der realen und gegenwärtigen Gefahr des Antisemitismus überzeugen kann.

Vorträge mit anschließender Diskussion und Q&A, moderiert von Susan Neiman

13.45–15.15h
Palestine and Holocaust Memory Politics
Tareq Baconi

Der Vortrag untersucht, wie das Holocaust-Gedenken durch den Staat Israel missbraucht wird, um die Kolonisierung Palästinas zu stützen. Baconi analysiert, wie dies geschieht – auch, aber nicht nur –, indem Vorwürfe von Antisemitismus in Stellung gebracht werden; mit dem Ziel, die Bewegung für die Rechte der Palästinenser*innen zu beschädigen.

Antisemitism in Britain: the Corbyn Years
Rachel Shabi

Mitten im Wahlkampf von 2019 erklärte der britische Oberrabbiner, der damalige Labour-Chef Jeremy Corbyn habe zugelassen, dass „ein von oben gebilligtes Gift“ Wurzeln in der Partei schlage. Ephraim Mirvis, der 62 orthodoxe Synagogen Großbritanniens vertritt, kritisierte in einer seltenen Intervention in der Tagespolitik Corbyns „völlig unangemessene“ Reaktion auf die Antisemitismuskrise der Partei und forderte die Menschen auf, „mit ihrem Gewissen abzustimmen“ – mit anderen Worten: nicht Labour. Wie war es dazu gekommen? Ein Blick auf die Corbyn-Jahre und die Frage, wie Antisemitismus in der britischen Politik aussieht, zeigt: reihenweise Beschuldigungen und Ausflüchte, Eskalationen und Leugnungen. Shabi untersucht, wie diese Krise das Verständnis für Antisemitismus schwächte, die Solidarität im Kampf gegen alle Formen von Rassismus zersetzte und es dadurch schwieriger geworden ist, über das Thema Palästina zu sprechen.

Vorträge mit anschließender Diskussion und Q&A, moderiert von Daniel Levy

15.45–17.45
Hijacked from the Centre: Holocaust Memory in Britain
David Feldman

Als der Abgeordnetenrat der britischen Juden und Jüdinnen vor vierzig Jahren auf dem Parlamentsgelände ein Holocaust-Mahnmal errichten wollte, tat die britische Regierung unter Margaret Thatcher den Vorschlag gleichgültig ab. Laut Außenminister Lord Carrington hatte es nichts mit Großbritannien zu tun. Heute hingegen setzen sich sowohl die konservative Regierung, die Labour Partei als auch die Liberal Democrats dafür ein, ein Holocaust-Mahnmal neben dem Parlament zu errichten. Der Holocaust ist außerdem das einzige verpflichtende Thema im nationalen Geschichtslehrplan für Schüler*innen im Alter von 13 bis 14 Jahren. Feldmann untersucht und erklärt diesen Wandel in der Holocaust-Erinnerung: Wie kann es sein, dass in Großbritannien, wo der Antirassismus aktuell die Öffentlichkeit spaltet, der Kampf gegen den Antisemitismus die politische Klasse wie kaum etwas anderes eint?

Whitening of the Jews and Misuse of Holocaust Memory
Gilbert Achcar

Der Begriff „Antisemitismus“ entstand ursprünglich, um europäische Juden und Jüdinnen als „nicht-weiß“ zu markieren und stand in Bezug zur Migration osteuropäischer Juden und Jüdinnen in westliche Länder im späten 19. Jahrhundert. Während das Ende des nationalsozialistischen Regimes nach 1945 das Weiß-werden europäischer Juden und Jüdinnen begünstigte, kam es durch die antikolonialen Befreiungskämpfe und die steigende Präsenz muslimischer Menschen in westlichen Ländern zu einer Verschiebung bei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Unterstützung dafür kam durch den zionistischen Rechtsextremismus. Diese Veränderung des westlichen Rassismus forcierte auch das Weißsein europäischer Juden und Jüdinnen, um die Holocaust-Erinnerung zu pervertieren und zu einer ideologischen Waffe in antimuslimischen Agenden zu instrumentalisieren.

Dubious Benevolence: The Holocaust and the Extreme Right in France and Italy
Diana Pinto

Die Welt ist heute aus den Fugen geraten. Wie lässt sich Holocaust-Gedenken begreifen, wenn es der europäische Rechtsextremismus betreibt? Worin liegt wessen Aneignung? Ist es noch sinnvoll, den Holocaust aus den politischen Perspektiven von Rechts und Links zu betrachten? Was bedeutet die jüdische (und israelische) Unterstützung dieser illiberalen Bewegungen? Italien und Frankreich sind zwei interessante Beispiele, die zeigen, wie der Rechtsextremismus einerseits typische Formen der Holocaust-Erinnerung aufgreift und gleichzeitig faschistische Vorfahren würdigt und ein rassistisches Programm umsetzt. Schockierende Vergleiche mit dem Schicksal der Jüdinnen und Juden im Zweiten Weltkrieg lesen sich wie ein Vorlauf zu Putins „anti-Nazi“-Krieg gegen die Ukraine, eine der sensibelsten Regionen in der Geschichte des Holocaust.
Vorträge mit anschließender Diskussion und Q&A, moderiert von Carinne Luck

18.15h
Sentiment, Seduction, Soreness: Countering the Right with Holocaust Comedy
Susanne Rohr

In ihrem Vortrag spricht Susanne Rohr über die jüngsten Entwicklungen eines hochsensiblen Genres, das der Philosoph Slavoj Žižek als „Lagerkomödie“ oder „Holocaust-Comedy“ bezeichnet hat. Welche Bedeutung hat ein grundlegender Tabubruch für die künstlerische Arbeit? Erzwingt ein anfänglicher Tabubruch ständig weitere Grenzüberschreitungen und Tabubrüche? Oder löst die Provokation eher den Wunsch nach Versöhnung und Linderung aus? Susanne Rohr bespricht diese und andere Fragen im Kontext des weltweit erstarkenden Rechtsextremismus.

Vortrag mit anschließender Q&A, moderiert von Miriam Rürup

19–20h
Andere (Täter-)Länder, andere Sitten?
Hanno Loewy und Eva Menasse

In Sachen Vergangenheitsaufarbeitung könnten die Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich kaum größer sein – im Grunde hat Österreich kollektiv erst mit der Affäre Waldheim 1986 das eigene bequeme Geschichtsbild als „erstes Opfer Hitlers“ zu hinterfragen begonnen. Was bedeutet das für die Gegenwart? Zwar holen rechtsextreme Parteien in Österreich regelmäßig bis zu 25 Prozent, dafür scheint es kaum gewaltbereite Rechtsextreme zu geben. Und wie steht das offizielle Österreich zum Nahost-Konflikt? Immerhin war Bruno Kreisky nicht nur der einzige jüdische Bundeskanzler, sondern ein dezidierter Unterstützer der Palästinenser*innen. Lange her: Heute beschwört die Wiener Politik das „christlich-jüdische Abendland“ gegen „den Islam“. Über Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Nachbarländern diskutieren Hanno Loewy und Eva Menasse.

Gespräch mit anschließender Q&A, moderiert von Miriam Rürup

21h
Konzert
Daniel Kahn & Yeva Lapsker

Der in Detroit geborener Troubadour bestreitet ein radikales Programm mit neuen und alten Liedern, geschmuggelt über die Grenzen von Jiddisch, Englisch, Russisch, Deutsch, Vergangenheit und Zukunft. Eine zeitgemäße Sammlung aus brüchigen Balladen, windschiefem Klezmer, Gefängnislamentos, Revolutionshymnen und apokalyptischem Blues. Das Programm wird begleitet und geziert von projizierten Bildern und Übertiteln der Videokünstlerin und Übersetzerin Yeva Lapsker.

Hijacking Memory

Hijacking Memory: Tag 1

Der Holocaust und die Neue Rechte

Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Screenings

9.6.2022

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Hijacking Memory: Tag 2

Der Holocaust und die Neue Rechte

Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Screening

10.6.2022

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Hijacking Memory: Tag 4

Der Holocaust und die Neue Rechte

Konferenz: Vorträge, Diskussionen, Performance

12.6.2022