Zivilisationsfragen

Das HKW widmet sich 2022 dem gegenwärtigen Zeitalter der permanenten Krise. Das Haus initiiert Gespräche zu den strukturellen Kräften dieses Gefahrenmoments. Weil die Fragen, die es zu stellen gilt, beunruhigend und dringlich sind, nennen wir sie Zivilisationsfragen.

Wie lassen sich Veränderungen im Erdsystem deuten?

Die Anthropocene Working Group (AWG) sucht seit 2019 weltweit an unterschiedlichen Orten stratigraphische Beweise für die Anfänge des Anthropozäns, jener Epoche, in der die menschlichen Einflüße zu tiefgreifenden Veränderung des Planeten geführt haben. Das Programm Evidenz & Experiment nimmt diese anthropogenen Spuren in den Archiven der Erde in den Blick und fragt nach Verstehens- und Handlungsmöglichkeiten in der neuen Erdepoche.

Bei der Erzählung des Anthropozäns geht es darum, wie durch menschliche Aktivitäten lokale Probleme zu einem planetarischen Zustand wurden.

In welchem Verhältnis stehen materielle Evidenz und die experimentelle Erforschung neuer Wissensformen zueinander? Eine Veranstaltungsreihe, Online-Publikationen und eine Ausstellung widmen sich dem ungesicherten Raum zwischen den planetaren Voraussetzungen und gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen.

Wie können sich aus dem gegenwärtigen Stillstand neue Vorstellungen für gesellschaftliche Ordnungen entwickeln? Weshalb muss dafür die Menschheitsgeschichte neu geschrieben werden?

David Graeber und David Wengrow hinterfragen in ihrem Buch The Dawn of Everything (2021; Anfänge, 2022) radikal die althergebrachten Narrative der Menschheitsgeschichte und zivilisatorischen Entwicklung. Sie beschreiben, inwiefern das evolutionistische Modell der letzten dreihundert Jahre Menschheitsgeschichte eine immer noch vorherrschende Gedankenfalle zur Legitimation westlicher Dominanz und Gewalt ist. Die Konferenz Die Zivilisationsfrage initiiert ausgehend von diesen Überlegungen Gespräche mit Archäolog*innen, Anthropolog*innen und Aktivist*innen und wirft neues Licht auf die Grundannahmen bisheriger Erzählungen der Menschheitsgeschichte.

Wie lässt sich Macht durch feministische Perspektiven niederreißen?

No Master Territories versammelt die vielfältigen Praxen des Dokumentarischen und des Kunstfilms für einen intersektionalen Blick auf das oft unterschätzte Aufeinandertreffen von Feminismus und Bewegtbild. Quer durch globale und polyzentrische Geografien fragt die Ausstellung, wie Künstler*innen und Filmemacher*innen die Verschränkung von Gender und Macht erkundet haben. Dabei legt sie Kontaktzonen frei, in denen Feminismus auf andere Gerechtigkeitskämpfe trifft.

Träumen NFTs von lebenden Pokémons?
(frei nach Philip K. Dick)

Wenn wir ernsthaft Fragen nach der Zukunft stellen, sollten wir uns viel intensiver mit den Antworten der Science Fiction auseinandersetzen. Das Festival Kosmischer Aufbruch / Cosmic Awakening nähert sich dem Thema von zwei Seiten, will einerseits die Funktion der SF als „Denkmaschine“ (Dietmar Dath) untersuchen, andererseits ihre Verzahnung mit der Popkultur, wie sie sich bei den Künstler*innen des Afrofuturismus, aber auch bei visionären Film-Soundtracks und als substantielles Ingredienz bei Psychedelia, Fusion und Techno zeigt.

Welche gemeinsamen Elemente finden sich in der Vielfalt menschlicher Kosmologien, was unterscheidet sie?

Ist ein „Wir“ vorstellbar, das von der Spaltung, den Kategorien und Statusfragen der „kolonialen Moderne“ weder vordefiniert, noch symptomatisch für sie ist? Ceremony: Catastrophe and Cosmogony. Burial of an Undead World sucht nach einem neuen (oder wieder erinnerten) Umweg. In Anlehnung an die jamaikanische Autorin Sylvia Wynter fragt die Ausstellung: Welche Strukturen verhindern, die moderne kapitalistische Welt mit denselben Begriffen zu besprechen wie andere durch den Kapitalismus angeblich überwundenen Kosmologien?

Wie kann der Planet mit Rücksicht auf soziale Werte und ökologische Grenzen bewohnt werden?

Für den Bruch mit dem Mythos der kolonialen Moderne und des Kapitalismus ist die Suche nach kosmologischen Vorstellungen von neuen Ursprungsgeschichten, Welten und Zeremonien zentral. Um in einer „postfaktischen“ Realität zu überleben, ist es wesentlich geworden, gewaltvolle und gewaltfreie Formen sozialer Techniken voneinander zu trennen und zu transformieren. Sie aktivieren die kosmogonischen Kräfte von Schöpfungsmythen, erwirken und reproduzieren Gesellschaftsformen. In einer Ausstellungsserie, einem Live-Programm und mehreren Publikationen bringt Ceremony: Catastrophe and Cosmogony. Burial of an Undead World Werke unterschiedlicher Genres und Zeiten mit historischen Dokumenten und einer Vielzahl von Vortragenden zusammen.

Welche kollaborativen Formen können einen bewohnbaren Planeten erhalten?

Bei der Erzählung des Anthropozäns geht es darum, wie durch menschliche Aktivitäten lokale Probleme zu einem planetarischen Zustand wurden. Where is the Planetary? experimentiert mit kollaborativen Praxen. Wie kann der Planet mit Rücksicht auf soziale Werte und ökologische Grenzen bewohnt werden? Unter Anleitung des Künstlers Koki Tanaka gestalten die Teilnehmenden des Diskurs- und Performanceprogramms eine Reihe informeller Formate der Zusammenarbeit rund um die komplexen planetarischen Themen.