Aslan Ġoisum
Um natürliches Glas herzustellen, muss ein passender Blitzschlag an der richtigen Stelle auf Sand treffen. Generationen junger Leser*innen haben dies aus Jules Vernes 1875 veröffentlichtem Roman Die geheimnisvolle Insel erfahren. Ich las ihn 98 Jahre später in schwedischer Übersetzung und konnte nie das Bild der Wissenschaftler vergessen, die am Morgen nach einem Gewitter den glasartig zusammengeschmolzenen Strand betreten. Aslan Ġoisum überließ die tatsächliche Glasherstellung jenen, die es am besten können: den Meisterglasbläser*innen von Murano, Venedig. Er bat sie, Wasserkaraffen aus seiner eigenen Sammlung möglichst getreu, dünnwandig und nahezu unsichtbar zu reproduzieren. Die traditionellen Karaffen entstammen den verschiedenen nord- und südkaukasischen Gesellschaften – ursprünglich waren die damit verbundenen Tätigkeiten Frauen vorbehalten. Ein stark kodiertes vormodernes Gebrauchsobjekt zu einem zeitgenössischen Kunstwerk zu machen, das nicht von Inhalt oder Bedeutung belastet ist, zeugt von künstlerischer Intelligenz. Volumen wird zu Abstraktion und doch bleibt die Moderne ungreifbar. Hier erfährt Erinnerung – kollektiv und persönlich, politisch und kulturell, imperial und emanzipatorisch – eine Wesensverwandlung, die Ġoisums künstlerische Praxis kennzeichnet. — Anders Kreuger
Werk in der Ausstellung: ohne Titel (2015), sechs Objekte aus Borosilikatglas, 61,2 × 26,5 × 26,5 cm; 63,5 × 26,3 × 26,3 cm; 60,5 × 26 × 26 cm; 62,3 × 27,8 × 27,8 cm; 61,2 × 26,5 × 26,5 cm; 66,5 × 26,5 × 26,5 cm. Courtesy Emalin und Galerie Zink