Nikolay Karabinovych
Seinem Interesse an der vielfältigen Sozialgeschichte Osteuropas geht der jüdisch-ukrainische Künstler Nikolay Karabinovych durch analytische, konzeptuelle oder interventionistische Auseinandersetzungen mit kollektiver und persönlicher Erinnerung nach. In einer einsamen Wüste verortet, erzählt Ici et ailleurs (Hier und anderswo) von der Mutter des Künstlers, einer Organistin. Das Porträt zeigt, wie sie weit entfernt von zuhause und in zwiespältiger Haltung gegenüber ihrer großen Leidenschaft – der Musik – Francis Poulencs Konzert für Orgel, Streichinstumente und Pauke auf einer unsichtbaren Orgel spielt. Von Stille umgeben, bewegt sie ihre Hände – nur der Klang des Windes ist im Hintergrund zu hören. Das Werk ist inspiriert von ausgiebigen Gesprächen zwischen dem Künstler und seiner Mutter über ihre Hingabe für die Musik und die Opfer, die sie gebracht hat, um ihre Laufbahn als Organistin aufzunehmen. Karabinovych wollte ihr helfen, ihre Leidenschaft neu zu entfachen und schuf einen gemeinsamen Raum der Trauer, in dem Stille eine Metapher für Abwesenheit ist. Weit weg von ihrer Heimat – den Krieg aus der Ferne erlebend – ist die Stille zu einem Medium geworden, um einen erschütternden Verlust auszudrücken und Traumata anzusprechen. Eine zweite Arbeit, Even Further, befasst sich mit den multikulturellen Wurzeln von Karabinovychs Familie, insbesondere mit seiner griechischen Herkunft väterlicherseits und seinen jüdischen Wurzeln mütterlicherseits, sowie mit den Beziehungen seiner Familie zur Region Odesa, die von zahlreichen imperialen Mächten kontrolliert wurde – und, wie manche behaupten, weiterhin kontrolliert wird.
In Weiterführung der Terrassen-Beflaggung, die das HKW bei Künstler*innen in Auftrag gibt, hat Nikolay Karabinovych mehrere Botschaften entwickelt. Mit Spuren von Ironie wie Melancholie, unbeschwertem Humor wie nüchterner Ernsthaftigkeit lassen sie unterschiedlichste Interpretationen zu: „Do I have a right to be here?” (Habe ich das Recht, hier zu sein?), „All the more reason to continue“ (Umso mehr Gründe weiterzumachen) – Selbstgespräch, innerer Monolog und öffentliche Diskussion zugleich, erlaubt diese fiktive Konversation eine große Variationsbreite an Rückschlüssen und springt zwischen dem Existenziellen und Kontingenten, dem Persönlichen und Institutionellen, dem Intimen und Politischen hin und her. Neben anderen quälenden Fragen und kontextbezogenen Lesarten verweisen diese Formulierungen auf Themen wie Migration, das Privileg einer Wahl zwischen sicheren Aufenthaltsorten und die beständigen Zweifel und Revisionen der Position, aus der Künstler*innen sprechen. Eine dritte Flagge mit einem zungenbrecherischen Wortspiel, „Do what you do be do be do be do be do“, erinnert an die linguistischen Experimente der Zaum-Lyrik und könnte als poetische Antwort auf diese Fragen gelten – eine Antwort, die auf Rhythmus, Musikalität und Vergnügen abhebt.
Werke in der Ausstellung:
Ici et ailleurs (Hier und anderswo, 2020), 1-Kanal-Videoinstallation, Sound, Farbe, 8' 16", produziert mit Unterstützung von PinchukArtCentre. Courtesy Nikolay Karabinovych/EIB Art Collection
Якнайдалі / Sogar noch weiter (2020), Installation, 1-Kanal-Video, Sound, Farbe, 6' 22", Courtesy Nikolay Karabinovych und M HKA, Museum of Contemporary Art, Antwerpen
Do I have a right to be here?, All the more reason to continue, Do what you do be do be do be do be do, 3 Flaggen, jeweils 7 × 4,5 m. Courtesy Nikolay Karabinovych