Kuratorisches Statement
Ballett der Massen
(…)
Dann ging es drunter und drüber, jedermann schüttelte die Hand eines Feindes als Freund oder klopfte ihm auf den Rücken, wie es ein Bruder tun würde; man tauschte Geschenke wie Kekse, Tee und Maconochies-Eintopf,
Tickler’s Marmelade … gegen Cognac, Würstchen, Zigarren, Bier, Sauerkraut; oder man jagte sechs Hasen, die aus einem Kohlfeld sprangen, oder fand einen Ball und machte aus einem Schlachtfeld einen Fußballplatz.
Ich zeigte ihm ein Bild meiner Frau. I showed him a picture of my wife. He thought her beautiful, he said. Sie sei schön, sagte er.
Sie begruben die Toten dann, hackten Spaten in harte Erde, immer wieder, bis eine Vielzahl von Männern ruhten, identifiziert, gesegnet. The Lord is my shepherd … mein Hirte, mir wird nichts mangeln.
Und den ganzen wunderbaren, festlichen Tag und die ganze Nacht lang kamen und gingen sie, die Offiziere, die einfachen Soldaten, ihre gefallenen Kameraden Seite an Seite unter den improvisierten Kreuzen der Mittwintergräber …
… unter den schlotternden, scheuen Sternen und dem erstarrten Mond und dem Gähnen der Geschichte; die hohen, hellen Kugeln, die jeder Mann später nur noch gen Himmel richtete.
Auszug aus „The Christmas Truce“ (Der Weihnachtsfrieden), Carol Ann Duffy
Der Legende nach wurde am 24. und 25. Dezember 1914, als die Welt sich im gewaltsamen Griff des Ersten Weltkriegs befand, der vier Monate zuvor ausgebrochen war, ein vorübergehender inoffizieller Waffenstillstand geschlossen, an dem über 100.000 britische und deutsche Soldaten beteiligt waren. Es heißt, dass während dieses Waffenstillstands überraschenderweise Fußball eine wichtige Rolle spielte, als die Soldaten der verschiedenen Kriegsparteien in den eisigen Schützengräben ihre Waffen gegen Bälle tauschten. Wie Carol Ann Duffy 2011 in ihrem Gedicht „The Christmas Truce“ beschreibt, machten die im Niemandsland stationierten Soldaten einander nicht nur kleine Geschenke, zeigten sich gegenseitig Bilder ihrer Familien und sangen Weihnachtslieder in verschiedenen Sprachen, sondern traten auch in improvisierten Fußballspielen gegeneinander an.
Ob diese Legende nun wahr, halbwahr oder halb falsch ist, spielt hier keine Rolle. Fußball als ein Medium zu verstehen, durch das eine vorübergehende Einstellung der Feindseligkeiten, ein Moment der Freundschaft zwischen Feinden und eine Atempause in einer Zeit des Schreckens hätten erreicht werden können, bedeutet vielmehr, zu verstehen, dass Fußball in erster Linie ein Sport ist, aber auch ein Spielfeld, auf dem politische Strategien zum Tragen kommen, auf dem sich gesellschaftspolitische Diskurse manifestieren und wirtschaftliche sowie kulturelle Fragen zusammenspielen. Das Beispiel des Weihnachtsfriedens zeigt die Politik der Hoffnung, die ein fester Bestandteil des Fußballs ist, sowie die Möglichkeit, durch Fußball Solidarität zu schaffen. Nach einem neunzigminütigen Spiel fallen sich die Spieler*innen bekanntermaßen in die Arme, Trainer*innen laufen über die Seitenauslinie, um ihren Gegner*innen zu gratulieren, und Politiker*innen gegnerischer Parteien schütteln einander die Hände, um sich zu bedanken und wertschätzend zu gratulieren. In Ländern auf der ganzen Welt ist es üblich, dass in den vier Wochen der FIFA-Fußballweltmeisterschaften oder bei kontinentalen Fußballturnieren einige der politischen Streitigkeiten für einen Moment beiseitegeschoben werden und ein Anschein von Frieden aufkommt. Das allein ist schon etwas wert. Aber es wäre naiv, den Fußball nur rosig zu malen. Wie jede andere Praxis hat auch diese Medaille mindestens zwei Seiten, wie Tom Bonsundy-O’Bryan in seinem Buch Football, War & Peace: How the Global Game Drives Conflict and Can Build Peace (Fußball, Krieg und Frieden: Wie das globale Spiel Konflikte anheizt und Frieden schaffen kann) zeigt. Anhand der von ihm angeführten Beispiele Algerien und Marokko wird deutlich, wie Fußball in der Vergangenheit sowohl als Bühne für die Forderung nach Frieden als auch für die Ausübung von Gewalt genutzt und missbraucht wurde. Er schreibt:
Die Algerier, die noch unter französischer Kolonialherrschaft standen, stellten eine All-Star-Elf aus einheimischen Fußballern zusammen – von denen einige unter dramatischen Umständen aus Frankreich geflohen waren – und reisten über den ganzen Planeten, um Bewusstsein und Unterstützung für ihre Sache zu schaffen, wobei sie gleichzeitig einen aufregenden Spielstil entwickelten, der Vergleiche mit den Harlem Globetrotters nach sich zog. Marokko hingegen versuchte, den Profifußball zu nutzen, um seine Besetzung der Westsahara zu legitimieren und zu normalisieren.[1]
Anlässlich der UEFA EURO 2024, die vom 14. Juni bis 14. Juli 2024 in Deutschland ausgetragen wird, widmet das Haus der Kulturen der Welt (HKW) im Rahmen des Projekts Ballett der Massen – Über Fußball und Katharsis sein gesamtes Gebäude und Programm Überlegungen zum Fußball. Als pluridisziplinäre Institution, die Praktiken der bildenden und performativen Künste, Klang und Musik, Literatur und Oraltur sowie wissenschaftliche und kulturelle diskursive Formate fördert und ihnen Raum gibt, öffnet das HKW seine Türen für Fußball als Praxis und Konzept an der Schnittstelle von verschiedenen Formaten des Alltäglichen.
In einer Zeit, in der Europa eine Zunahme ideologischer Auseinandersetzungen und politischer Umwälzungen erlebt, die ähnliche Ängste schüren wie während des Ersten Weltkriegs, mag es seltsam erscheinen, sich bei der Namensgebung dieses Projekts auf einen Satz von Dmitri Schostakowitsch zu berufen. Dem sowjetischen Komponisten und Pädagogen wird nachgesagt, dass er durch Fußball dem Stress seines Alltags entfliehen konnte und dass der Sport sogar Einfluss auf seine Musik hatte. Die ihm zugeschriebene Aussage „Fußball ist das Ballett der Massen“[2] fordert aber auch dazu auf, Fußball als künstlerische und ästhetische Praxis zu verstehen – klanglich, performativ und in anderer Hinsicht –, als etwas, das als Mittel zur Befriedung eines größeren Publikums gelten kann, sowie als etwas, das magnetisch wirkt oder großer Kunst ähnelt.
Fußball und Sozio-Geo-Politik
Wie zahlreiche andere Spiele, Schach oder Monopoly zum Beispiel, ist auch Fußball ein Spiel der politischen Strategie. Es ist ein Spiel, das auf der Ausarbeitung einer Verteidigungsstrategie, einer Puffer- oder Verteilungszone im Mittelfeld und einem effektiven Angriff aufbaut. Die Entscheidung für einen defensiven Catenaccio oder eine offensive Spielweise, für ein durchlässiges oder rhizomatisches Mittelfeld, für kurze Tiqui-Taca-Pässe oder weite Flanken sind nur einige der strategischen Fragen, die Fußballtrainer und -philosophen nachts wachhalten, und das, was bestimmten Mannschaften ihre Identitäten verleiht. Solche strategischen Überlegungen sind für Marketingstrategien, im Gesundheits- oder Krisenmanagement, in politischen Kampagnen ebenso erforderlich wie in der Kriegsführung.
Gleichzeitig ist Fußball weltweit zu einer Plattform geworden, auf der Fragen der Migration und der postkolonialen Realitäten verhandelt werden. Bei den FIFA-Weltmeisterschaften der Männer ließ sich beobachten, dass viele afrikanische Fans, nachdem alle Mannschaften des Kontinents ausgeschieden waren, ihre Unterstützung auf die französische Nationalmannschaft verlagerten, die umgangssprachlich als FC Africa United bezeichnet wurde. Diese humorvolle Betrachtung weist auf einen tieferen Zusammenhang zwischen Frankreich, England, Deutschland, Portugal sowie vielen weiteren Ländern der Welt und ihren kolonialen Beziehungen hin.
Garang Mawien Kuol, Stürmer bei Newcastle United, und sein Bruder Alou Kuol, der bis 2023 für den VfB Stuttgart spielte, standen besonders während der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2022 in Katar im Mittelpunkt des Interesses. Beide sind als Kinder aus Südsudan geflohen und haben in Australien Zuflucht gesucht. Nun spielen sie auf unterschiedlichen Ebenen für die australische Nationalmannschaft. Die Geschichte der Migration zeigte sich auch in der deutschen Nationalmannschaft der Männer mit Spielern der zweiten und dritten Generation türkischer ‚Gastarbeiter‘ wie Mesut Özil oder İlkay Gündoğan, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Fußball und Geschlecht und Sexualität
In ihrem Essay „Why football needs a gender revolution“ (Warum der Fußball eine Gender-Revolution braucht) aus dem Jahr 2022 erörtert Stacey Pope Fragen der Geschlechterdiskriminierung und -ungleichheit sowie Misogynie und weist darauf hin, dass der beliebteste Sport der Welt – Fußball – immer noch ein Raum männlicher Dominanz ist. Sie stellt fest, dass „Frauen im Fußball nicht nur als Spielerinnen und Fans, sondern auch als Schiedsrichterinnen, Funktionärinnen, Journalistinnen und Vereinsmitarbeiterinnen zunehmend sichtbarer werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Sexismus und Misogynie, die seit vielen Jahren zu den Kernmerkmalen des sogenannten schönen Spiels gehören, verschwunden sind“.[3] Der eindringliche Aufsatz von Pope nennt eine Reihe von erschütternden Beispielen für Misogynie im Fußball und weist darauf hin, dass „Fußball nicht in einem Vakuum existiert. Wenn Misogynie in der Gesellschaft weit verbreitet ist, überträgt sich das auf die Fußballarena“.[4] Während der Kampf um Gleichberechtigung, Vielfalt und Inklusion in der Gesellschaft insgesamt weitergeht, werden Fußballvereine zu einem Spiegelbild dessen, wobei das Lohngefälle zwischen männlichen und weiblichen Fußballspieler*innen ein zentrales Beispiel für die Ungleichheit ist.
Dasselbe gilt für LGBTQI+-Rechte im Bereich des Fußballs. Die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2022 in Katar hat viele Fragen zum Status von Queerness und den Rechten von LGBTQI+-Personen als Spielende, Fans sowie in weiteren Bereichen aufgeworfen, und der Widerstand gegen die Diskriminierung von Gruppen, die aus dem heteronormativen Rahmen fallen, wie er bei den Turnieren der letzten Jahre zu beobachten war, wird den Sport langfristig beeinflussen – aber es gibt noch viel zu tun. Während es immer noch eine Seltenheit ist, von offen queeren Fußballspielenden, -fans und -vereinen zu hören, kümmern sich viele nationale Verbände darum, ein günstigeres Umfeld für queere Menschen zu schaffen. Wie Oliver Pieper in seinem Artikel „How Germany promotes LGBTQ tolerance in its soccer stadiums“ (Wie Deutschland die LGBTQ-Toleranz in seinen Fußballstadien fördert) darlegt, engagieren sich immer mehr Fans im Netzwerk der Queer Football FanClubs – darunter Bradford City LGBT, Roze Règâhs aus Den Haag und die Wankdorf Junxx von Young Boys Bern – mit der Absicht, „mehr schwule und lesbische Fanclubs zu fördern und sie in die größere Fanszene zu integrieren – etwas, das heute bei Fußballspielen immer noch in Frage gestellt wird“.[5]
Fußball, Performativität und Musik
Fußball ist unglaublich eng mit akustischen Praktiken verwoben. Jeder Fußballverein hat eine Hymne, die Tausende von Fans dazu anspornt, aufzuspringen und die Arme in die Höhe zu strecken oder ihrer Mannschaft mittels Gesang die Treue zu schwören. Indem sie von Solidarität, von Schmerzen oder von Höhen und Tiefen unterschiedlicher Art singen, versprechen die Fans den Spieler*innen über Generationen und geografische Grenzen hinweg, dass sie zum Beispiel niemals allein gehen werden: Die Fans des FC Liverpool, des FC Celtic, des FC Twente, von Borussia Dortmund und vielen anderen Vereine haben „You’ll Never Walk Alone“ übernommen, die Adaption eines Songs aus dem Rodgers-and-Hammerstein-Musical Carousel von Gerry And The Pacemakers, während andere Monty Pythons „Always Look on the Bright Side of Life“ zum Feiern oder Trösten gewählt haben.
Sehr oft werden bestimmte Lieder zum Synonym für bestimmte Fußballwettbewerbe, und obwohl es zu viele sind, um sie aufzuzählen, sticht Sportfreunde Stillers „’54, ’74, ’90, 2006“ als Beispiel für dieses Phänomen heraus, wenn die Menge singt:
Eins und zwei und drei und vier / ’54, ’74, ’90, 2006 / Ja so stimmen wir alle ein / Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein / Werden wir Weltmeister sein / Wir haben nicht die höchste Spielkultur / Sind nicht gerade filigran / Doch wir haben Träume und Visionen / Und in der Hinterhand ’nen Masterplan / Für unsre langen Wege aus der Krise / Und aus der Depression / Lautet die Devise / Nichts wie rauf auf den Fußballthron
In einem einzelnen Lied ist es möglich, Eifer, Siegeslust, Humor, Freude, Kampfgeist und vieles mehr zu entdecken. Ein weiterer denkwürdiger Fußballsong der letzten Jahrzehnte ist Shakiras „Waka Waka (This Time for Africa)“, das die Spielenden dazu motiviert, sich wie Soldat*innen auf einem Schlachtfeld zu verhalten, und das auf dem Lied „Zamina mina“ der kamerunischen Band Zangalewa aus den 1980er Jahren basiert. Shakiras Sound wurde anlässlich der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2010 in Südafrika vorgestellt, ein Ereignis, das der Welt durch die Vuvuzela ein neues Klangerlebnis bescherte.
Aber diese Fußballlieder sind auch Räume der historischen Erzählung. Es gibt Namen von Fußballspieler*innen, die im brasilianischen Samba oder im kamerunischen Makossa gesungen werden und die in keiner anderen Form dokumentiert sind. Nach Kameruns spektakulärem Abschneiden bei der Fußballweltmeisterschaft der Männer 1990 in Italien komponierte der legendäre kongolesische Musiker Pépé Kallé ein Lied mit dem Titel „Roger Milla“, um dieses historische Ereignis zu würdigen und als Träger der Geschichte in der Populärkultur zu fungieren.
In der Welt des Fußballs und des Gesangs kann man die Verbindung zwischen Fußballliedern und Spiritualität nicht übersehen. Das Fußballstadion wird auch als Tempel bezeichnet. Nicht nur, weil manche Menschen ihre Teams religiös verehren, sondern auch, weil in der kreisförmigen Infrastruktur der Stadien – mit den Spielenden in der Mitte wie ein Altar und mit Tausenden von Menschen, die um sie herum jubeln und singen – leicht eine Atmosphäre der Sakralität hervorgerufen wird. Aber noch konkreter ist, dass viele Lieder, die in Fußballstadien gesungen werden, von religiösen Liedern beeinflusst sind oder sich an ihnen orientieren. In einem Artikel in The Scotsman[6] werden beispielsweise die Ursprünge der beliebtesten schottischen Fußballgesänge wie „Follow, Follow“ beschrieben. Das Lied, das bei jedem Spiel des Rangers FC im Stadion erklingt und von Rangers-Fans jeder Generation, einschließlich Kleinkindern, gesungen werden kann, basiert auf der berühmten christlichen Hymne von William Orcutt Cushing aus dem Jahr 1878 mit dem Titel „I Will Follow Jesus“. Ein weiteres Lied, das immer dann erklingt, wenn eine Mannschaft im britischen Fußball eine Niederlage einstecken muss oder kurz vor dem Abstieg in eine niedrigere Liga steht, ist „You’re Not Singing Any More/Sing When You’re Winning“, das auf das alte walisische Kirchenlied „Cwm Rhondda“ oder „Guide Me, O Thou Great Redeemer“ zurückgeht. Einer der größten Klassiker der Gospels, die in einem Stadion gesungen werden, ist jedoch das Lied „He Is a Miracle Working God“. Wann immer die nigerianische Nationalmannschaft der Männer zu Hause oder international spielt, feuern Zehntausende von nigerianischen Anhänger*innen ihre Mannschaft an, indem sie mit allen möglichen Blasinstrumenten zur Melodie von „He is a miracle working God. He’s a miracle working God. He’s the alpha and the omega. He’s a miracle working God“ singen und spielen. Es sei vielleicht erwähnt, dass der Gott der nigerianischen Mannschaft allzu oft auch der Gott der gegnerischen Mannschaft ist, aber das ist eine andere Diskussion.
Fußball und Erzählung
Fußballkommentierung ist eine Kunst für sich. Wenn spanische oder argentinische Kommentator*innen „Gooooooool!“ schreien, geht mit dieser besonderen Erzählkunst etwas Bemerkenswertes einher. Kommentator*innen wie der Deutsche Herbert Zimmermann (1917–1966), der das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 1954 kommentierte, das als „Wunder von Bern“ bekannt wurde, sind für ihre legendäre Tätigkeit unsterblich geworden: „Tor für Deutschland! 3:2 führt Deutschland, fünf Minuten vor dem Spielende. Halten Sie mich für verrückt, halten Sie mich für übergeschnappt!“
In dieser Liga spielen auch der britische Kommentator Barry Davies (*1937), der französische Kommentator Thierry Gilardi (1958–2008), der kamerunische Fußballjournalist Zachary Tokoto Nkwo (1948–2017), der Sambier Dennis Liwewe (1936–2014), der Nigerianer Ernest Okonkwo (1936–1990) und der Ghanaer Joachim Awuley Lartey (1927–2024), auch bekannt als „Over To You“ Joe Lartey. Das Radio spielte eine entscheidende Rolle bei der Etablierung der Fußballkommentierung als Verkörperung der Oraltur. Als Medium war das Radio 1986 ein zentraler Akteur, als die Welt ihre Aufmerksamkeit auf das Geschehen während der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer in Mexiko richtete. Etwa zur gleichen Zeit wurde in Kamerun das nationale Fernsehen eingeführt, und Dutzende von Menschen versammelten sich um einen Bildschirm, um die Spiele zu verfolgen. Auffallend war, dass die Menschen, obwohl sie das Geschehen live im TV verfolgten, ihre Radios an den Ohren hatten, um die Fußballkommentare zu hören. Es schien, als ob die Radiokommentare eine größere und tiefere Wahrheit enthielten als das, was im Fernsehen zu sehen war. Diese Praxis ist in Fußballstadien auf der ganzen Welt immer noch üblich, denn die Menschen gehen mit ihren Radios an den Ohren zum Live-Fußball. Das liegt zum großen Teil daran, dass die Radiomoderator*innen die Kunst des Erzählens so beherrschen, dass sie den Sehsinn überschattet. Fußballkommentator*innen sind in der Lage, Bilder heraufzubeschwören, die reicher, illustrer und fantasievoller sind als das, was sie sehen. Das wird verständlich, wenn man die Wortakrobatik hört, die der berühmte nigerianische Sportkommentator Ernest Okonkwo zur Beschreibung eines Spiels auf Radio Nigeria verwendete:
Eisengatter-Emmanuel Okala wirft den Ball zum Vorsitzenden Christian Chukwu. Chukwu tippt den Ball zum Verteidigungsdekan Yisa Sofoluwe; Sofoluwe schickt einen telegrafischen Pass zum Mittelfeld-Maestro Mudashiru Lawal. Muda Lawal dribbelt zwei Gegner aus und schickt den Ball zum mathematischen Segun Odegbami. Odegbami zögert und zaudert, druckst und trickst und lokalisiert den elastischen Humphrey Edobor. Der Sturm sammelt sich in der Nähe des gegnerischen Torraums, und es könnte bald ein Tor regnen. Edobor dreht sich schnell nach rechts und gibt den Ball zurück an Odegbami. Odegbami schießt den Ball in Richtung des blitzschnellen Sylvanus Okpala, der eine interkontinentale ballistische Rakete von außerhalb des Strafraums abfeuert. Es ist ein Tor! Es ist ein Tor! Nigeria hat getroffen![7]
Dies ist die Apotheose der Ästhetik des Fußballkommentars oder der Kunst der Fußballerzählung – das menschliche Gehirn scheint mehr von einem als telegrafisch beschriebenen Pass zu verstehen als von einem Pass, der von A nach B gespielt wird.
Fußball und Rassismus
In vielen Stadien in Europa und Nordamerika ist es auch heute noch üblich, dass Schwarze und Braune Menschen mit rassistischen Gesängen, Affenlauten und allzu oft mit dem Hitlergruß empfangen werden.
Ein besonders erschreckendes Beispiel fand am 25. Februar 2006 während des Spiels zwischen Real Saragossa und dem FC Barcelona statt. Samuel Eto’o, der für Barcelona spielte, wurde von den Zuschauer*innen mit rassistischen Beleidigungen aller Art konfrontiert. In der 77. Minute, nach einem Chor von Affenrufen und nachdem er mit Flaschen beworfen worden war, unterbrach Eto’o das Spiel, nahm den Ball auf und sagte: „No más!” (Genug!) Für diese rassistischen Beschimpfungen gegen einen der besten Spieler der Welt, der zufällig Schwarz ist, wurde Real Saragossa zu einer Geldstrafe von 600 Euro verurteilt – eine Entscheidung, die eher als Ermutigung denn als Mittel zur Abschreckung des Publikums verstanden wurde.
Diese in der Fußballwelt weit verbreitete Krankheit und die Notwendigkeit, sich gegen Rassismus im Fußball zu wehren, hat der Deutsch-Ghanaer Kevin-Prince Boateng 2013 treffend formuliert, als er sagte: „Ich habe versucht, Rassismus zu ignorieren. Ähnlich wie bei Kopfschmerzen, von denen man weiß, dass sie verschwinden, wenn man nur lange genug wartet. Aber das ist ein Irrglaube. Rassismus verschwindet nicht. Wenn wir ihm nicht entgegentreten, wird er sich ausbreiten. Wir müssen uns dem Rassismus stellen und ihn bekämpfen.“[8]
Rassismus ist zwar immer noch ein fester Bestandteil von Fußball auf der ganzen Welt, aber es ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass Fußballvereine und -verbände in den Kampf gegen Rassismus investieren und Methoden finden, damit sich die Spielenden auf Vereinsebene besser akzeptiert fühlen. Es bleibt noch viel zu tun.
Mit dem Projekt Ballett der Massen – Über Fußball und Katharsis inszeniert das HKW den Fußball als ästhetische und soziopolitische Erfahrung, als soziologische Manifestation, die die inhärenten Schönheiten, aber auch die Missstände unserer Gesellschaft reflektiert: Fußball als Soziokultur, als ein Spiegel, der der Gesellschaft vorgehalten wird, und als ein Raum, in dem die Vielzahl der Kulturen, die wir bewohnen, reflektiert wird.
Prof. Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
Aus dem Englischen von Manyakhalé Diawara
[1] Tom Bonsundy-O’Bryan, Football, War & Peace: How the Global Game Drives Conflict and Can Build Peace, Eigenverlag, 2022, S. 12.
[2] John Sanders, „‚The ballet of the masses‘: Football and Dance from Shostakovich to ‚Pop‘ Robson“, Football Paradise (12. Mai 2022), https://www.footballparadise.com/the-ballet-of-the-masses-football-and-dance-from-shostakovich-to-pop-robson/.
[3] Stacey Pope, „Why football needs a gender revolution“, The Conversation (19. Mai 2022), https://theconversation.com/why-football-needs-a-gender-revolution-182394.
[4] Pope, „Why football needs a gender revolution“.
[5] Oliver Pieper, „How Germany promotes LGBTQ tolerance in its soccer stadiums“, DW In Focus (30. November 2002), https://www.dw.com/en/how-germany-promotes-lgbtq-tolerance-in-its-soccer-stadiums/a-63943686.
[6] „The origins of Scotland's most popular football chants“, The Scotsman (27. Januar 2017), https://www.scotsman.com/whats-on/arts-and-entertainment/the-origins-of-scotlands-most-popular-football-chants-606389.
[7] Douglas Anele, „Nigeria: Notes On the Beautiful Game“, All Africa (22. Juni 2014), https://allafrica.com/stories/201406220013.html
[8] United Nations Human Rights, Office of the High Commissioner, „Time to kick racism out of football“ (22. März 2013), https://www.ohchr.org/en/stories/2013/03/time-kick-racism-out-football.