Magnolia
von Sharon Lam
Die Geschichte eines Baums, der seinen Weg in das chilenische Nationalstadion fand und die Wahrnehmung der Historie zumindest für kurze Zeit veränderte
Stellen Sie sich ein Fußballstadion vor. Irgendeins. Egal wie klein oder groß es ist, wie alt oder neu, hell oder dunkel. Einen Rasen und einen Ort, von wo aus man das Spiel betrachten kann. Und nun überlegen Sie: Was könnte dieses Stadion maximal stören? Ein Werbebanner? Ein großes Tier? Ein Panzer? Oder vielleicht: ein Baum? Ein einziger Baum, in die Mitte des Spielfelds gepflanzt, genauer: eine zehn Meter hohe Magnolie, ausgreifend und robust, perfekt in der Mitte des Spielfelds platziert, im Zentrum des Mittelkreises. Der Rasen rundherum bleibt unangetastet, noch etwas weiter entfernt erheben sich die Tribünen.
Der Künstler Sebastian Errazuriz hat diese Art der Störung verwirklicht. Nachdem er zwei Jahre lang an der Finanzierung aus Eigenmitteln und am Einholen von Genehmigungen gearbeitet hatte, gelang es ihm, 2006 einen Magnolienbaum in die Mitte des chilenischen Nationalstadions in Santiago de Chile zu verpflanzen. Sein Werk war eine Woche lang zu sehen. Es verwandelte das 48.000 Personen fassende Stadion, das sich sonst nur für kommerzielle Veranstaltungen öffnet, in einen frei zugänglichen Park für alle. Ohne Worte und unvermittelt vollbrachte der Baum diese Transformation. Die Woche fand ihren Abschluss mit einem Spiel der chilenischen Nationalmannschaft der Männer um den Baum herum, dem 20.000 Menschen beiwohnten.[1]
Tatsächlich mag die Magnolie nur eine Woche lang im Mittelkreis gestanden haben, aber die Bilder, die sie produzierte, und die Vorstellung eines Fußballfeldes mit einem einzelnen Baum in der Mitte sind von unheimlicher Zeitlosigkeit. In seiner physischen Erscheinung wirkte der Baum zunächst wie ein offensichtlicher Eindringling auf dem Spielfeld, ein Störenfried. Wie soll man Fußball spielen, wenn ein Baum im Weg steht? Aber dieses Denkbild lässt sich schnell umkehren. Der Baum offenbart die vollständige Abwesenheit anderer Pflanzen, von Vögeln oder Insekten. Es gibt in diesem Raum nur einen unglaublich gepflegten Rasen, der mit weißen Linien und Punkten versehen ist, gerahmt von steilen Betonrängen mit Plastiksitzen. Der eigentliche Eindringling ist das Stadion. Wie bei allem vom Menschen Geschaffenen gilt: Der Baum war zuerst da.
Zum Zeitpunkt seiner Einweihung 1938 war das chilenische Nationalstadion der größte Bau der Hauptstadt. Aus der Vogelperspektive sieht es unscheinbar aus, wie jedes andere Stadion der Welt: ein grünes Rechteck mit geneigten Zuschauerrängen, die das Ganze wie eine elliptische Dose aussehen lassen. Doch auf Nahaufnahmen aus den Anfangsjahren des Stadions sind erstaunliche modernistische Details zu erkennen: runde und quadratische Öffnungen, die sich durch weißen Gipsputz drängen, eine Reihe von Säulengängen am Haupteingang, ebenfalls mit weißem Gips verputzt. Das Stadion war nur eines von vielen öffentlichen Bauwerken, die die Regierung von Arturo Alessandri zu jener Zeit errichten ließ, allesamt modernistisch und monumental, ein Herrschaftszeichen nationalen Wachstums und Erfolgs. Die Architekturhistorikerin Valentina Rozas-Krause schreibt, dass der Modernismus der perfekte Stil für diese Mission war, denn er erfüllte das Credo, dass öffentliche Architektur „durch neue Techniken, Räume und Ästhetiken eine nationale Identitätherausbilden“[2] sollte, zumal die damals anwachsende chilenische Mittelschicht der landbesitzenden Aristokratie skeptisch gegenüberstand und moderne Architektur bevorzugte. Und doch war nicht alles so perfekt, wie es schien, nicht mal bei der Einweihung. Das Stadion wurde in unvollendetem Zustand eingeweiht, selbst auf Pressefotos sieht man unlackierten Rohbeton neben weiß gestrichenen Wänden. Die dunkelsten Tage des Stadions sollten aber erst noch kommen.
1973 wurde das Nationalstadion zu einem Internierungslager umfunktioniert. Zwischen 10.000 und 20.000 Chilen*innen und ausländische Zivilist*innen wurden über einen Zeitraum von acht Wochen von der Militärjunta Augusto Pinochets dort eingesperrt, in vielen Fällen gefoltert und teilweise getötet.[3] Das geschah unmittelbar nach Pinochets Staatsstreich, der die Regierung von Salvador Allende stürzte und reihenweise Zivilist*innen verhaftete, die als regimefeindlich galten. Das Nationalstadion war für die Junta das perfekte Gefängnis.
Es war noch immer der größte Bau der Hauptstadt und für deren Bewohner*innen, die dort vielleicht selbst Spiele besucht hatten, gut sichtbar. Ein Ort, der für die Menschen Freizeit und kollektives Spektakel bedeutet hatte, wurde zu einem Ort der Despotie und des kollektiven Grauens. Eine psychologisch starke Botschaft. Wo 1962 das Finalspiel der Fußballweltmeisterschaft der Männer ausgetragen worden war, herrschten nun Angst und Verzweiflung. Was wird jemand, der ein Fußballstadion zu einem Gefangenenlager macht, aus dem Rechtsstaat machen?
Einige technische Eigenschaften des Gebäudes haben diese verstörende Umwidmung begünstigt. Es gab zahlreiche Umkleide- und Serviceräume sowie unterirdische Gänge, „potenzielle Verliese“, wie Rozas-Krause schreibt. Männer wurden in den Umkleideräumen und auf den Zuschauerrängen eingesperrt, während Frauen in separaten Umkleiden untergebracht wurden. Andere Diensträume wurden zu Verhörzimmern umgestaltet, im Bereich des ehemaligen Velodroms wurde gefoltert. Die Häftlinge wurden auf die Tribünen gerufen und erhielten farbige Scheiben. Diejenigen mit einer bestimmten Farbe mussten zu Verhören, die niemals gut ausgingen.[4] Das Spielfeld mit den Zuschauerrängen und der Pressetribüne bot eine panoptische Umgebung, die Techniken der Massenüberwachung auf dem Niveau internationaler Großveranstaltungen anbot. Durch die breiten escotillas (Durchgänge unter den Tribünen) waren während der Fußballweltmeisterschaft der Männer 1962 etwa 76.000 Menschen hinein und hinaus geschleust worden. Diktator Pinochet persönlich sowie andere Junta-Mitglieder benutzten die Sprechanlage des Stadions, um die Gefangenen zu beleidigen und Befehle zu brüllen.
In der klaustrophoben Struktur des Stadions fanden die Gefangenen Wege, sich zu unterstützen und zu überleben. In den Umkleidezonen bildeten sich Selbsthilfenetzwerke aus. Wenn Mitgefangene nach Folterungen zurückkehrten, erhielten sie je nach Verfügbarkeit zusätzliche Decken, Essen und Zigaretten. Aus weggeworfenen Eisstielen unter den Tribünen wurden Spielkarten und Dominosteine gebastelt. Die weiblichen Häftlinge sangen füreinander sowie für die Männer in den benachbarten Räumen.
Eine Signaltechnik wurde entwickelt – eine kleine weiße Flagge, die durch eine Öffnung geschwenkt wurde –,um einander gegenseitig wissen zu lassen, ob die Insassen die Folter überstanden hatten. Zitate, Daten und Kalender wurden mit verbliebenen Werkzeugen, zum Beispiel liegen gelassenen Schlüsseln, in die Wände geritzt.[5] Einige dieser Inschriften sind noch heute in der Escotilla 8 zu sehen, die als Gedenkstätte erhalten geblieben ist.[6]
Auch außerhalb des Stadions formierte sich unter den chilenischen Bürger*innen Solidarität gegen das, was innerhalb der Stadionmauern passierte. Über Wochen versammelten sich vor allem weibliche Angehörige der Inhaftierten Tag für Tag, um die Wachen des Stadions zu beschimpfen. Sie brachten Lebensmittel, Kleidung und Briefe für die Gefangenen mit, die manchmal durch einen mitfühlenden Soldaten oder eine Krankenschwester des Roten Kreuzes ins Stadion gelangten. Aus den Versammlungen an den Stadionmauern gingen Selbsthilfegruppen wie die Vereinigung der Verschwundenen und die Vereinigung der politisch Hingerichteten hervor.[7]
Am Ende war es ein Fußballspiel, das die Rolle des Nationalstadions als Internierungslager beendete – allerdings nicht ohne einen finalen Akt diktatorischer Skurrilität. In einem Qualifikationsspiel zur Fußballweltmeisterschaft der Männer 1974 sollte Chile gegen die Sowjetunion antreten. Die Sowjets, die politisch gegen Pinochets antisozialistisches Projekt eingestellt waren, beschwerten sich über den Austragungsort, den sie als „Ort des Blutes“ bezeichneten. FIFA-Inspektoren wurden entsandt, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Vor ihrer Ankunft wurden die meisten Gefangenen in unterirdische Umkleideräume verfrachtet, einige blieben jedoch auf den Tribünen.
Felipe Agüero, einer dieser Gefangenen, erzählte David Waldstein in einem Interview für die New York Times, dass die FIFA-Inspektoren zwar herumspazierten, sich aber „nur für den Zustand des Rasens zu interessieren schienen“.[8] Tatsächlich befanden die Inspektoren den Platz für vollkommen in Ordnung und bestanden auf der Austragung des Spiels. Die Sowjets kündigten an, das Spiel dennoch boykottieren zu wollen, wodurch es laut den FIFA-Statuten als Sieg für Chile gewertet worden wäre.
Pinochet wollte aber keinen Sieg am grünen Tisch. Er wollte auf dem Feld gewinnen. Die im Stadion Inhaftierten wurden also in andere Gefängnisse verlegt, und am 21. November 1973 kehrte die Nationalmannschaft auf das Feld zurück, um Fußball zu spielen –allerdings ohne Gegner. Die chilenischen Nationalspieler passten sich in ihren rot-blauen Trikots den Ball zu, bis ihn schließlich jemand im leeren Tor der Gegenseite versenkte und damit das vielleicht unheimlichste Spiel, das der internationale Fußball je gesehen hat, nach neunzehn Sekunden beendete. Heute ist das Nationalstadion, das seit 2008 Estadio Nacional Julio Martínez Prádanos heißt, ein Ort für Fußball und Konzerte, aber auch ein Wahllokal und ein Ort für demokratische Versammlungen. Es ist die Heimat von La Roja, der chilenischen Nationalmannschaft, und war 2015 ein Austragungsort der Copa América. Für die überlebenden Häftlinge ist der Anblick so vieler jubelnder Menschen an einem Ort, an dem sie beinahe gestorben wären, erschütternd. „Unaussprechliche Dinge wurden uns hier angetan. Jetzt gibt es wieder Fußball. Die Leute haben Spaß“, sagte René Castro, der unter den am längsten inhaftierten Insassen des Stadiongefängnisses war. Er kehrte 2011 für ein Konzert der Band U2 erstmals in das Stadion zurück. Von der Bühne rief Sänger Bono ihm zu: „René Castro, das ist auch dein Haus!“[9]
Sebastian Errazuriz’ Magnolienbaum war eine direkte Anspielung auf die Geschichte des Stadions. Er gab seinem Werk den Titel The Tree Memorial of a Concentration Camp (Baumdenkmal für ein Konzentrationslager). Wer den historischen Kontext nicht kennt, muss diese Bezeichnung seltsam finden. Mit dem Wissen um die Geschichte des Orts lässt der Titel den einsamen Baum jedoch noch stärker wirken. Das Kunstwerk wurde speziell für diesen Ort geschaffen, hat aber eine universelle Botschaft. Wo er auch stehen mag, fragt der Baum: Was war vor mir da? Wie sind diese glänzenden Plastiksitze hier gelandet?
Auf einem Spielfeld in Katar würde er die eklatante Missachtung von Umweltstandards und Arbeitsrechten anklagen. Im verlassenen, halbfertigen Stadion des Guangzhou FC würde er die Vergeblichkeit fehlgeleiteter, profitorientierter Konstrukte offenlegen. Und in einem Stadion in den USA würde er den Spielenden zuzwinkern, die in einer politischen Geste der Solidarität auf die Knie fallen. Stellen Sie sich also noch einmal ein Fußballstadion vor. Diesmal aber nicht irgendeins, sondern genau das Stadion, das ihrem Wohnort am nächsten liegt. Was würde der Baum dort bedeuten, mitten auf dem Feld?
Aus dem Englischen von Tobias Haberkorn
Dieser Text erschien erstmalig im BoM Magazin
[1] Sebastian Errazuriz, „The Tree Memorial of a Concentration Camp“, Sebastian Studio, 2006; online: https://sebastian.studio/public-the-tree-memorial-of-a-concentration-camp.
[2] Valentina Rozas-Krause, „Interrupted Stadium: Broken Promises of Modernity in the National Stadium of Chile“, CUNY: Shift Journal 8 (2015), S. 63.
[3] Unterschiedliche Quellen nennen stark voneinander abweichende Zahlen. Zachary D. McKiernan schreibt in seiner Veröffentlichung The Public History of a Concentration Camp: „Die genaue Zahl der Inhaftierten und Hingerichteten wird möglicherweise nie bekannt werden. Einem viel zitierten Bericht des Internationalen Roten Kreuzes zufolge befanden sich am 22. September etwa 7.000 Gefangene im Stadion. Am selben Tag antwortete Oberst Espinoza auf die Frage eines chilenischen Journalisten: ‚Wie viele Gefangene befinden sich im Stadion?‘, mit: ‚Im Moment sind es zwischen 3.500 und 4.000.‘ Am 15. Oktober berichtete eine Delegation der Organisation Amerikanischer Staaten über knapp 3.000 Gefangene. Der ehemalige Häftling Rolando Carrasco gab in seinem 1977 erschienenen Buch Prigué. Prisionero de guerra en Chile die Zahl 30.000 an. Jahre später, 1990, zitierte Chiles erste Wahrheitskommission, die Nationale Kommission für Wahrheit und Versöhnung, den Bericht des Internationalen Roten Kreuzes von 1973, ohne jedoch eine unabhängige Schätzung abzugeben. [...] Wenn, wie einige vermuten, allein im ersten Monat nach dem Putsch rund 45.000 Menschen verhaftet wurden, könnten wir annehmen, dass die Zahl der im Stadion Inhaftierten in den ersten 58 Tagen der Diktatur weit über den Schätzungen des Roten Kreuzes, der Organisation Amerikanischer Staaten beziehungsweise von Manuel Contreras lag.“ Zachary D. McKiernan, The Public History of a Concentration Camp: Historical Tales of Tragedy and Hope at the National Stadium of Chile, Santa Barbara: University of California, 2014, S. 56–57.
[4] Eva Vergara, „Guard blows lid off Chile deaths“, The Guardian (28. Juni 2000); online: https://www.theguardian.com/world/2000/jun/28/pinochet.chile.
[5] Zachary McKiernan, The Public History of a Concentration Camp, S. 6.
[6] Fernando Lavoz, „La memoria oscura de un estadio“, Fotoserie; online: https:/ www.fernandolavoz.cl/estadio-nacional.
[7] Zachary McKiernan, The Public History of a Concentration Camp, S. 71.
[8] David Waldstein, „In Chile’s National Stadium, Dark Past Shadows Copa América Matches“, The New York Times (17. Juni 2015); online: https://www.nytimes.com/2015/06/19/sports/soccer/in-chiles-national-stadium-dark-pastshadows-copa-america-matches.html.
[9] Beide Zitate in: David Waldstein, „In Chile’s National Stadium“.