Bwa Kayiman—Tout Moun se Moun
Performances, Diskurs, Musik, Tanz, Film, Food
2.–4.8.2024
…There is much to despair in the present of Haiti, but the revolution is a lifelong struggle and we will not forget…
—Marlene L. Daut
Grounding
Jedes Jahr lädt das Haus der Kulturen der Welt (HKW) seine Besucher*innen ein, gemeinsam mit Künstler*nnen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Musiker*innen der Haitianischen Revolution zu gedenken, die zur Geburt der ersten Schwarzen Nation führte. Obwohl Haiti seine Unabhängigkeit erst 1804 erlangte, wurde der Grundstein für die Revolution im August 1791 während der Beschwörung und Zeremonie des Bwa Kayiman gelegt, jenes „Alligatorenwaldes“, in dem ein Gerücht einen Aufstand zur Folge hatte. Einerseits wird Bwa Kayiman als historische Voraussetzung für die Emanzipation und die Abschaffung der Versklavung von Menschen in Haiti und in anderen Gesellschaften und kolonisierten Ländern auf der ganzen Welt gefeiert. Andererseits bietet Bwa Kayiman eine Gelegenheit, über die sozioökonomischen, soziopolitischen und ökologischen Hürden nachzudenken, mit denen Haiti und andere postkoloniale Gesellschaften beim Aufbau eigener Nationalstaaten sowie durch neokoloniale Mächte konfrontiert sind; ferner ist es ein Anlass, über das Projekt der Mounisierung (Humanisierung) historisch entmenschlichter und entrechteter Gemeinschaften auf der ganzen Welt zu reflektieren. Welche historischen und wirtschaftlichen Überlegungen müssen angestellt werden, um Haiti heute, 220 Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit, zu verstehen? Wie hängen die soziopolitischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Haiti mit anderen postkolonialen Gegebenheiten in Afrika, Asien und Amerika zusammen? Wenn die Haitianische Revolution den abolitionistischen Kräften und Unabhängigkeitsbewegungen auf der ganzen Welt im 19. und 20. Jahrhundert vorausging, was lässt das heutige Haiti dann erahnen?
Tout Moun se Moun
Ausschlaggebend für die zweite Ausgabe von Bwa Kayiman – Tout Moun se Moun im HKW waren die Überlegungen zu Relationalität und humanité des haitianischen Lyrikers, Autors und Aktivisten René Depestre, die etwa in seinem Gedicht „Une conscience en fleur pour autrui“ zum Ausdruck kommen:
Ma joie est de savoir que tu es moi
et que moi je suis fortement toi.
Tu sais que ton froid dessèche mes os
et que mon chaud vivifie tes veines.
Ma peur fait trembler tes yeux
et ta faim fait pâlir ma bouche.
Sans ta force d’être un feu libre
ma conscience serait plus seule
que la terre morte d’un désert.1
Aufbauend auf der ersten Ausgabe im Jahr 2023 mit dem Titel Begegnungen im Herzen der Befreiung begibt sich Bwa Kayiman erneut auf den Weg der Wiedergutmachung und reflektiert über die Bedeutung der Kultur für den Wiederaufbau Haitis und anderer Bevölkerungsgruppen, die unterdrückerischen und ausbeuterischen Regimen ausgesetzt waren.
In diesem Jahr steht die haitianische revolutionäre Maxime tout moun se moun (jeder Mensch ist ein Mensch) im Mittelpunkt. Die Teilnehmenden sind aufgefordert, sich die zentrale Frage zu stellen: Wie kann die Welt aktiv dazu beitragen, die Menschen Haitis für die systematische Benachteiligung zu entschädigen? Die Menschen in Haiti trugen wesentlich zur politischen Befreiung ihres Landes bei und pflanzten so die revolutionären Samen, die unter anderem in Brasilien, Kolumbien, Martinique, den USA und Liberia gekeimt sind. Sie inspirierten unterdrückte Gruppen in der ganzen Welt und konsolidierten sich als erster freier Staat, der von ehemals versklavten Menschen gegründet wurde, als erste Schwarze Republik und als erster Staat, der die Versklavung endgültig abschaffte, indem sie darauf bestanden, dass Freiheit erst dann erreicht werden kann, wenn alle Menschen sie erlangt haben. Im Mittelpunkt ihrer Geschichte stand und steht die Menschlichkeit, die nicht nur als kollektiver gesellschaftlicher und kultureller Wert verstanden wird. Bwa Kayiman zielt außerdem darauf ab, Formen des Erinnerns und der Wiedergutmachung für Haiti und dessen wegweisendes Erbe im Kontext der aktuellen – oftmals oktroyierten – politischen und wirtschaftlichen Krisen zu entwickeln.
Vom 2. bis 4. August 2024 werden Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Priester*innen und viele andere aus der Karibik, Asien, Afrika sowie weiteren Weltregionen im HKW eine Reihe von performativen Gesten aufführen, die von körperlichen Ausdrucksformen über diskursive Zusammenkünfte bis hin zu klanglichen Darbietungen und gemeinsamen Essen reichen. Diese Gesten laden dazu ein, Menschlichkeit zu praktizieren und dafür einzutreten, langjährige Emanzipationsprojekte zu würdigen, die heute weitgehend übersehen werden. Außerdem werden Möglichkeiten geschaffen, sich mit ähnlichen Kämpfen und Projekten auf der ganzen Welt zu solidarisieren, wie etwa jenen der Dalit-Communitys auf dem indischen Subkontinent oder der Menschen in Ruanda.
In seinem zweiten Jahr lässt sich Bwa Kayiman von Mawu anleiten, dem haitianischen Vodou-Geist des himmlischen Lichts und der Weltordnung, wobei der Schwerpunkt auf Praktiken der Fürsorge und der menschlichen Anerkennung liegt, die für den Aufbau kollektiver Zukünfte nach wie vor von entscheidender Bedeutung sind.
Cadence – Rasambleman
Das Wochenende beginnt mit einer Segnung der Sängerin und mambo Carole Demesmin, die die Urgeister Ayizan und Legba anruft, um die Vorhaben der Veranstaltung vorzubereiten. Im Anschluss folgt eine Keynote des Soziologieprofessors Jean Casimir über das System der counter-plantation (Gegenplantage), das die Haitianer*innen seit den Anfängen der Kolonialplantagen als Gegenbewegung organisierten. Casimir ruft dazu auf, Solidaritätsketten zu knüpfen und umfassendere Reparationen zu fordern, die nur durch die Bildung von längst überfälligen Allianzen zwischen Haiti und anderen karibischen und afrikanischen Ländern ermöglicht werden. Im Anschluss an Casimirs Vortrag und im Geiste von Bwa Kayiman führen die Autorin und Professorin für französische und afrikanische Diasporastudien Marlene L. Daut sowie der Wirtschaftswissenschaftler und Professor für öffentliche Politik Célestin Monga ein Gespräch über die Schulden, die Haiti bis heute für den Mut zahlt, eine Revolution entfacht zu haben. Sie bieten Interpratationen über das Versagen der Welt und ihrer menschlichen Ökonomien in Bezug auf Haiti an. Casimir, Daut und Monga sind sich der Notwendigkeit bewusst, diesem Fragenkomplex den nötigen Nachdruck zu verleihen, und zeichnen gemeinsam ein Bild der Strategien aktiver Unterentwicklung, die den Menschen Haitis im Zuge einer postkolonialen Geopolitik aufgezwungen wurden. Die Tänzerin und Choreografin Lēnablou beschließt den ersten Teil des Abends mit Le Sacre du Sucre, ihrer 25-jährigen Studie über die Tanztraditionen der gwoka und bigidi mé pa tombé, einer guadeloupianischen Philosophie des Widerstands, die ihren Sinn im Ungleichgewicht findet – einem Stolpern ohne zu fallen.
Der Abend wird mit einer Einladung in eine kreisförmige Struktur fortgesetzt, inspiriert vom lakou, einem gemeinsamen Hof und unterstützenden Community-System, in der eine Reihe von klanglichen Beiträgen, Erzählungen und Lesungen der Musikerinnen und Flüsterinnen Rachelle Jeanty und Riva Précil sowie des Choreografen Luis Garay zu hören sind. In Anlehnung an die Tradition der Bwa-Kayiman-Zeremonie, wie sie in der Vergangenheit stattgefunden hat, bereiten verschiedene Berliner Food-Kollektive Speisen zu, um Gesten der Gastfreundschaft und Geselligkeit zu schaffen. Die für das Projekt Ballett der Massen entstandene Installation The Playground of All Possibilities des Künstlers Joël Andrianomearisoa wird wieder aktiviert, um diese Zusammenkunft zu beherbergen, die einen Archipel der Vielfalt und kollektiven Verkörperung darstellt, der die Besucher*innen einlädt, sich emanzipatorischen Zukunftsträumen hinzugeben.
Des Weiteren wird das Programm durch eine Vielzahl von künstlerischen Gesten sowie eine Kombination aus performativen Darbietungen und Gesprächen bereichert, die den Körper als resiliente Ausdrucks- und Widerstandsform in den Mittelpunkt stellen. Zwei Movement Lectures konzentrieren sich auf die Weisheit, die Geschichte und die Lebensstrategien, die in den Tanzkulturen von Jamaika und Guadeloupe ihren Ausdruck finden. Das HKW hat zwei wegweisende Persönlichkeiten zu Gast, deren Arbeit in Deutschland noch nie live präsentiert wurde: die Choreografinnen, Tanzpädagoginnen und Wissenschaftlerinnen L'Antoinette Stines und Lēnablou. Stines lehrt mit L’Antech ein System der Tanzerziehung, das das zeitgenössische Moment alter afrodiasporischer Tanzpraktiken wie Kumina, Bruckins, Nyabinghi, Tambu, Yanvalou, Piquet, Arara und Bambosche, aber auch verschiedener klassischer europäischer Traditionen sowie von Daaance'all hervorbringt. Lēnablou hält eine zweiteilige Movement Lecture über die bigidi filosophy, die dem Gwoka-Tanz zugrunde liegt, und über den lawonn, den afrozentrischen sozialen Raum, in dem er praktiziert wird, gefolgt von einer experimentellen Praxis ihres Techni'ka, die sich aus ihrem Studium des Gwoka und seiner adaptiven, improvisatorischen und freudvollen Dynamik ergibt.
Die Mounisierung als Antithese zur Entmenschlichung und als tägliche Praxis kann nicht ohne die Einbeziehung der Künste und spirituellen Praktiken erfolgen, also ohne Schlüsselaspekte, die befreiende Kräfte antreiben. In deren Zeichen steht das Konzert des houngan, Musikers und Heilers Erol Josué und seiner Shango-Band, die eine musikalische Pilgerreise durch das Miriam Makeba Auditorium anführen. Das Werk von Josué hat als musikalische Praxis der Emanzipation und der Überwindung von Missverständnissen und diskriminierenden Auffassungen von Vodou in der ganzen Welt starken Widerhall gefunden.
Bwa Kayiman – Tout Moun se Moun ist auch eine Gelegenheit, die Stimmen der immer noch unterdrückten Communitys zu stärken, die heute nach Emanzipation streben, sowie die Geschichte ihres Befreiungskampfs zu teilen. Die Ko-Kurator*innen Sajan Vazhakaparambil Kolavan Kalyanikutty Mani und Shaunak Mahbubani, die sich für die Wiedererzählung von Dalit-Geschichten und die Stärkung ihrer Communitys im Kampf gegen die Hegemonie der Kasten innerhalb und außerhalb Berlins einsetzen, laden das Publikum dazu ein, über Y. S. Alones Begriff der protected ignorance (geschützten Ignoranz) nachzudenken, und geben damit einen prägnanten Einblick in das kasteistische System der Wissensproduktion in Südasien und in der Diaspora. Sie präsentieren ein Programm, das die Hegemonie der Kasten aufbricht und auf eine Grundsatzrede von Professor Alone aufbaut. Ergänzt wird es durch eine Performance der Tänzerin Nrithya Pillai und eine Präsentation des Anthropologen und Historikers Gajendran Ayyadurai, die eine ungebundene Zukunft jenseits des stagnierenden Zustands der brahmanischen Moderne imaginieren. Die widerständige Versammlung wird durch Text- und Videoarbeiten von Priyageetha Dia, Mahishaa (Neelavarana ನೀಲಾವರಣ), Rahee Punyashloka und Lapdiang Artimai Syiem verstärkt, die sich jeweils mit der heutigen Situation des Kastensystems in sich überschneidenden Sphären des sozialen Gefüges auseinandersetzen.
Dreißig Jahre nach dem Völkermord an den Tutsi in Ruanda widmet das Programm außerdem Momente des Gedenkens dem Leben und Ungelebten, und zwar durch eine Reihe von Präsentationen von Kiki Katese, Samuel Ishimwe, Scholastique Mukasonga und Amelia Umuhire, die sich mit Philosophien der Mounisierung und des Widerstands befassen, die in den letzten drei Jahrzehnten aus der Not geboren wurden.
Für die diesjährige Ausgabe von Bwa Kayiman regt die Künstlerin Chaveli Sifre mit einer Duftinstallation im Miriam Makeba Auditorium zu kollektiver und persönlicher Ruhe, Kontemplation und Neuinterpretation an. Mit Rest & Riot (Safe Passage – Rite of Passage – Mona Passage) stellt sie eine sanfte Meeresbrise nach und bietet die Gelegenheit, über Ozeane als kontextuelle und umkämpfte Räume nachzudenken, die Menschen auf der ganzen Welt isolieren und vereinen. Jean-Ulrick Désert trägt zur diesjährigen Feier mit dem zentralen Bild für den Kongress bei und zeigt einen Ausschnitt aus seinem Werk Waters of Kiskeya (2017): einer Karte des materiellen und immateriellen Reichtums des karibischen Ökosystems, das sich aus Pflanzen, Erde, Wasser, Tieren, imaginären Kreaturen und der Geschichte von Ausbeutung und Widerstand zusammensetzt. Kiskeya ist der Name der Insel, auf der sich Haiti und die Dominikanische Republik befinden, ein Symbol der Einheit in ihrer gemeinsamen Geschichte. Das Bild zeigt einen Regenbogen mit Passagen berühmter Schriftsteller*innen aus dem karibischen Becken und den Inseln. Der Regenbogen steht nicht nur für Licht, Überfluss und die eigenwillige Fähigkeit, die Realität nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, sondern erinnert auch an Ayida-Weddo, die Regenbogenschlange, die im Vodou der iwa (Geist) der Fruchtbarkeit, des Regenbogens, des Windes, des Wassers, des Feuers, des Reichtums, des Donners und der Schlangen ist und häufig für die Darstellung Haitis verwendet wird. Die Regenbogenschlange wird auch als der Geist angesehen, der altes Wissen aus Afrika in die Karibik brachte.
Das Rasambleman 2024 schließt – oder besser gesagt: öffnet sich weiter – mit einer poetischen Lesung von Désert, in der er eine Weissagung der Sterne über dem mythischen Alligatorenwald Bwa Kayiman in der Nacht des 14. August 1791 durchführt, gefolgt von einer Segnung und Anrufung von Zaka, wiederum durch Demesmin, der Gottheit der Erde und der Ernte. Ausgehend von der anfänglichen Aufforderung, das zu feiern, was die Erde Menschen und Nichtmenschen gleichermaßen bietet, schaffen Demesmin sowie alle Mitwirkenden der dreitägigen Veranstaltung ein Kontinuum von Momenten, um Menschlichkeit zu praktizieren, die Sinne zu schärfen, kollektive Träume zu gestalten und die damit verbundene gemeinsame Verantwortung anzunehmen.
1René Depestre, „Une conscience en fleur pour autrui”, in: En état de poésie (Petite sirène), Paris: Les éditeurs français réunis, 2012, digitale Ausgabe 28. Deutsche Übersetzung: „Meine Freude besteht darin, dass ich weiß, dass du ich bist und ich stark du bin. Du weißt, dass deine Kälte meine Knochen austrocknet und meine Wärme deine Adern belebt. Meine Angst lässt deine Augen zittern, und dein Hunger lässt meinen Mund erblassen. Ohne deine Kraft, freies Feuer zu sein, wäre mein Bewusstsein einsamer als die tote Erde einer Wüste.“