Als Teil von Bwa Kayiman – Tout Moun se Moun bringt das Programm Disrupting Protected Ignorance Diskurs, Performance, Textinstallationen und Bewegtbild zusammen, um die Kastenhegemonie im Zentrum der südasiatischen Wissensproduktion zu unterwandern, indem es kollektiv Zukünfte der Gerechtigkeit und Reziprozität imaginiert.

Die Unabhängigkeit Indiens von England im Jahr 1947 wurde als bedeutsamer Schritt gefeiert – als Schaffung der bevölkerungsreichsten Demokratie der Welt. Doch ähnlich wie im Fall von Haiti und anderen kolonisierten Regionen und Bevölkerungsgruppen waren die Konsequenzen dieser Unabhängigkeit zwiespältig. Trotz der unermüdlichen Arbeit von Sozialreformer*innen wie Babasaheb B. R. Ambedkar wurde die Mehrheit der indischen Bevölkerung im Rahmen dieses Prozesses im Stich gelassen – nämlich all jene, die seit tausenden von Jahren durch die Kastenhegemonie ihrer Freiheit beraubt werden. In diesem Zusammenhang muss die postkoloniale Moderne „als systemisches Instrument zur Aufrechterhaltung der innerhalb der Kastenhierarchie wirkenden Machtverhältnisse neu untersucht werden“, wie Professor Y. S. Alone schreibt.

Die instruktive Perspektive Alones auf die kasteistische Struktur der Wissensproduktion in Südasien und der Diaspora bildet die diskursive Grundlage für diese Versammlung, die zweite jährliche Bwa-Kayiman-Gedenkveranstaltung des HKW. Indem er die Wurzeln der Dominanz in der Wissensproduktion verortet, schreibt Alone: „Besteht das Ziel der Rationalität darin, die Ignoranz zu töten, wird sie zu einer gerechten Rationalität, und wenn ihr Ziel nicht darin besteht, die Ignoranz zu töten, wird sie zu einer ungerechten Rationalität, die wiederum zur ‚geschützten Ignoranz‘ wird.“ In einer Keynote am 3. August 2024 erläutert Alone sein Konzept der „geschützten Ignoranz“ und stellt die Arbeit von Künstler*innen in den Vordergrund, die im gedanklichen Bezug auf die Dalits und Ambedkar Welten jenseits dieser engen Hegemonie imaginieren. Gajendran Ayyathurai, Initiator des akademischen Teilbereichs der Critical Caste Studies, wird auf Alones Vortrag reagieren.

Da die Ausübung dieser strukturellen Macht für Außenstehende zumeist im Verborgenen stattfindet, herrscht die weitverbreitete Annahme, das Prinzip der Kaste gehöre der Vergangenheit an. Im Rahmen ihrer Lecture Performance offenbart Nrithya Pillai auf der Bühne die gewaltvolle Aneignung des Bharatanatyam, einer klassischen Tanzform, die ihren Vorfahr*innen gestohlen wurde. Ihre Performance lenkt ausgehend von Audioarchiven aus dem Repertoire ihres Großvaters die Aufmerksamkeit auf die Geschichten und Errungenschaften ihrer Abstammung von Sudra-Musiker*innen. Sie spricht insbesondere über den fehlenden Zugang und die mangelnde Anerkennung für Frauen aus ihrer Kaste und Region und macht das Gefühl des Verlusts erfahrbar, das damit einhergeht, diese ureigene Tanzform nur in vermittelter Form und retrospektiv erlernen zu können.

Des Weiteren wird die widerständige Versammlung durch Texte, Zeichnungen und Bewegtbild von Priyageetha Dia, Mahishaa (Neelavarana ನೀ ಲಾವರಣ), Rahee Punyashloka und Lapdiang Artimai Syiem darin bestärkt, uneingeschränkte Zukünfte zu imaginieren, die über den stagnierenden Zustand der brahmanischen Moderne hinausgehen. Sie alle setzen sich mit der Gegenwärtigkeit der Kaste in sich überschneidenden Bereichen des sozialen Gefüges auseinander.

Die räumliche Abtrennung und die Nichtanerkennung von Ansprüchen auf Grund und Boden ist nicht allein in Dörfern, sondern auch in jeder Großstadt ein Eckpfeiler des Kastensystems. In seiner Videoarbeit 131 kartiert Mahishaa (Neelavarana ನೀ ಲಾವರಣ) Zugehörigkeitsbekundungen im urbanen Raum mittels einer wiederkehrendenIkonografie von Ambedkar in Bangalore. So stellt er die Bedeutung des Revolutionsführers für die Vereinigung der Dalit-Communitys hinsichtlich seiner Forderung nach der Abschaffung des Kastensystems wieder her. Bildung war einer der wichtigsten von Ambedkar propagierten Mittel zu diesem Zweck. Doch trotz der verfassungsmäßigen Bestimmungen für den Zugang zu Bildungseinrichtungen werden Indigene Dalit- und Adivasi-Schüler*innen nach wie vor von Lehrer*innen, Gleichaltrigen und Schulverwaltungen benachteiligt. Rahee Punyashlokas Texte und Zeichnungen auf Stoff bilden eine ergreifende Hommage an Rohith Vermula, dessen Kampf für Gerechtigkeit und dessen anschließende Ermordung auf institutionellem Wege im Jahr 2016 das Land zu einem erneuten Aufstand bewegte.

Während das Kastensystem vor allem für die Dalit-Communitys und ihre Diaspora die merklichste Form der Unterdrückung darstellt, lastet sie im südasiatischen Raum auf jedem einzelnen Körper. Priyageetha Dia veranschaulicht in ihrem Werk LAMENT H.E.A.T. diese Verteilung anhand der Geschichte ihrer Familie, deren Mitglieder im Rahmen der indentured labour (eine Form der befristeten Zwangsarbeit, die insbesondere während des 19. Jahrhunderts im südpazifischen Raum vorherrschend war) auf die malaiische Halbinsel gebracht wurden. Das aus computergenerierten Bildern zusammengesetzte Video folgt gespenstischen Erscheinungen über eine brennende Plantage, indem es immer wieder aus der Vogelperspektive heranzoomt und hin- und herschwenkt – ein ästhetischer Kommentar auf die Begrenzungen, die die Arbeitshierarchien prägen. Das auto-narrative Video Laitïam von Lapdiang Artimai Syiem von der Indigenen Bevölkerungsgruppe der Khasi in Meghalaya bringt intersektionale Kämpfe und die Auslöschung von Archiven zusammen, um die Kosmologie eines Hirsches zum Leben zu erwecken, der auf der Suche nach Heilkraut erlegt wird. Diese künstlerische Form der Trauerarbeit befasst sich mit dem Verlust von Land und verwurzelten Lebensweisen.

The whole histories of the world. 

Not a single letter is seen 

On my people. 

—Poykayil Appachan, ‘No Not a Single Letter is Seen’

Die Versammlung gibt – auf der Grundlage der in dieser Klage des Malayali-Aktivisten, Sozialreformers, Dichters und Sohnes von Sklav*innen Poykayil Appachan skizzierten Erinnerungskultur – Anstöße, die Geschichte der Dalits und Adivasi durch den künstlerischen Ausdruck von Menschen mit direkten Erfahrungen neu zu beleben. Sie verzichtet dabei auf reduktive brahmanische ethnografische Ansätze zugunsten komplexer, nachhaltiger Subversionen.

Sa, 3. Aug. 2024, Safi Faye Hall:

16:30
Mediated Pasts: Caste and Non-Brahmin Selfhood in Bharatanatyam Dance 
Performance von Nrithya Pillai
Englisch mit deutscher Übersetzung

17:30
Dismantling Cosmetic Metanarratives: Ambedkarian Aesthetics and Articulating Contradictions
Keynote  von Y. S. Alone, gefolgt von einem Gespräch mit Gajendran Ayyathurai 
Englisch mit deutscher Übersetzung

 

Fr., Sa., So., 2-4. Aug. 2024, Gunta Stölzl Foyer:

Mahishaa (Neelavarana ನೀಲಾವರಣ), 131 – Babasaheb in Bengaluru (2024), Video, 1.31 Minuten

Priyageetha Dia, LAMENT H.E.A.T (2023), Video, 14.15 Minuten, Englisch und Tamil mit englischen Untertiteln

Lapdiang Artimai Syiem, Laitïam (2022–2023), Video, 15 Minuten, Englisch

Rahee Punyashloka, I Lazarus, For Rohith (2024), Text und Zeichnungen auf hängendem Stoff, Englisch

 

Bessie Head Foyer:

Rahee Punyashloka, selected works (diverse Entstehungsjahre), Projektion