Kuratorisches Statement
Echos der Bruderländer
Wer die historischen und gegenwärtigen globalen Beziehungen Deutschlands nur durch das Prisma der BRD und somit des Westens betrachtet, erfasst nicht das ganze Bild und führt einen Diskurs, der unweigerlich in einem ausgrenzenden und einseitigen Geschichtsbild mündet. Wenn die deutsche Nachkriegs- und Nachwendegeschichte erzählt wird – eine Geschichte, die auch als die des „Beitritts der DDR zur BRD“ betrachtet und kritisiert werden kann –, dann wird ein Vermächtnis der Deutschen Demokratischen Republik häufig ausgeblendet: die Migrationsbewegungen und transnationalen politischen, wirtschaftlichen, bildungsbezogenen und künstlerischen Verflechtungs- und Austauschprozesse, die durch Bündnisse und Abkommen der DDR mit anderen sozialistisch orientierten Staaten, den sogenannten „Bruderländern“, zustande kamen. Im weiteren Sinn bezieht sich der Begriff auf die Gesamtheit der ideologischen, politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Kultur- und Bildungsaustausch sowie die wirtschaftliche oder politische Unterstützung zwischen der DDR und ihren Verbündeten ermöglichten – wozu auch die Übernahme von Vertragsarbeiter*innen zählte. Zwischen 1949 und 1990 migrierten in diesem Rahmen Hunderttausende Menschen in die DDR, darunter etwa 500.000 Arbeiter*innen und Auszubildende[1] aus Ländern wie Algerien, Angola, Mosambik und Vietnam und bis zu 70.000 Studierende[2] unter anderem aus Ghana, Guinea-Bissau, Nigeria, Syrien, Tansania und Vietnam. Hinzu kamen Tausende politische Migrant*innen aus sozialistischen Ländern wie Chile oder nicht-sozialistischen Ländern wie der Türkei, in denen Kommunist*innen verfolgt wurden. 1989 lebten in der DDR 190.000 ausländische Staatsangehörige.[3]
Im Schatten der ikonischen Bilder und ikonografischen Darstellungen von Solidarität, „geeintem Klassenkampf“ und „sozialistischem Internationalismus“ gab es jedoch eine andere Realität. Obwohl die DDR die Fairness ihrer Arbeitsbedingungen und die Möglichkeiten beruflicher Weiterentwicklung hervorhob, erlebten die Vertragsarbeiter* innen Ausbeutung, beengte Wohnverhältnisse, Überwachung, den Entzug gewisser Freiheiten und Rechte (wie etwa das Recht, schwanger zu werden oder eine Beziehung zu führen), rassistische und fremdenfeindliche Angriffe, von ihren Heimatländern einbehaltene Löhne und gebrochene Versprechen sowohl der entsendenden Regierungen[4] als auch der Führung der DDR. Auch wenn sich die Lage von Arbeitenden, Studierenden und politischen Geflüchteten insofern unterschied, als Arbeiter*innen oft in der noch schlechteren Situation waren, blieben Studierende und politische Migrant*innen nicht verschont. Manche kamen etwa für ein Studium oder eine Ausbildung in die DDR, mussten dann aber in Schlachthöfen arbeiten. Arbeitskräfte, Studierende und politische Geflüchtete wurden von der Stasi überwacht – insbesondere diejenigen, die Streiks organisierten oder die DDR-Regierung kritisierten. Einige wurden in Absprache mit der DDR und den Regierungen ihrer Heimatländer in ihr Herkunftsland zurückgeschickt.
Nach der deutschen Vereinigung verschlechterte sich die Lage zunehmend. Mit der Auflösung der DDR endeten auch die Arbeits- und Stipendienverträge der ausländischen Bürger*innen. Viele mussten gegen ihren Willen in ihre Heimatländer zurückkehren. Wer blieb, durchlebte rechtliche und wirtschaftliche Unsicherheit, die durch verstärkte rassistische und fremdenfeindliche Übergriffe noch verstärkt wurden. In den ersten Jahren nach 1990 verübten Neonazis aus Ost- und Westdeutschland Pogrome, unter anderem gegen Mosambikaner* innen und Vietnames*innen sowie Asylsuchende in Hoyerswerda (1991), und gegen vietnamesische Arbeiter* innen und geflüchtete Rom*nja in Rostock-Lichtenhagen (1992). Rund 3.000 Rostocker*innen klatschten Beifall, als die Migrant* innen angegriffen wurden. Aber wie viel davon war den DDR-Bürger*innen bekannt, und wie viel davon den Bürger*innen des vereinigten Deutschlands?
Natürlich waren Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht in der DDR erfunden worden, sie waren auch in Westdeutschland verbreitet, und das lange, bevor es die BRD und die DDR überhaupt gab. Wenn man jedoch den Anstieg rechtsextremer Tendenzen und des Rassismus in den neuen Bundesländern und den strukturellen Rassismus im heutigen Deutschland insgesamt verstehen will, muss man sich auf eine radikale Aufarbeitung der Geschichte der DDR und ihrer Auswirkungen auf das heutige Deutschland einlassen.
Diese Geschichte ist komplex und lässt sich nicht anhand von pauschalen Annahmen über die Unterdrückungsverhältnisse in der DDR erzählen. Denn neben ungerechten Arbeitsbedingungen, asymmetrischen Wirtschaftsbeziehungen, Rassismus und unerfüllten Versprechen gab es lebendige Horizonte und Praktiken sozialistischer Solidarität auf individueller, lokaler, nationaler und globaler Ebene, einschließlich der Unterstützung der DDR für antikoloniale und antiimperialistische Befreiungskämpfe in anderen Teilen der Welt. Wie wurden solche Beziehungen möglich gemacht? Wie viel von dieser Geschichte und diesem Erbe ist heute noch sichtbar?
Echos der Bruderländer ist ein multidisziplinäres Projekt, das die Geschichte der DDR und ihre Beziehungen zu den betreffenden Partnerländern durchleuchtet und dabei den Begriff des Bruderlandes, der vergeschlechtlichte und egalitäre Implikationen und Illusionen enthält, kritisch hinterfragt. In einem von Auslöschungen, Wissenslücken und Abwesenheiten geprägten öffentlichen und pädagogischen Diskurs will dieses Projekt den Nachhall des Bruderländer-Bilds in Deutschland, aber auch in den Partnerländern verstehen und die zugrundeliegenden Beziehungen in eine Globalgeschichte kultureller Bewegungen und Austauschprozesse einordnen.
Auch nach der deutschen Vereinigung blieben diese Geschichten weitgehend unerzählt. In den großen historischen Darstellungen der DDR und der internationalistischen sozialistischen Bewegungen, aber auch in einer BRD-zentrierten Geschichtsschreibung, die Stimmen aus der DDR unterdrückt, fehlen sie zum Leidwesen der beteiligten Menschen größtenteils. Um die Verflechtungen von Migration, Erinnerungskultur und Rassismus im heutigen Deutschland zu verstehen, ist es notwendig, solche (Dis-)Kontinuitäten der deutschen Geschichte und die Auswirkungen eines strukturellen Vergessens und Verdrängens nachzuzeichnen. Dabei gilt es, die Implikationen der Begegnungen und Beziehungen außerhalb Deutschlands näher zu untersuchen. Nur so lassen sich transnationale Verknüpfungen und miteinander verflochtene Geschichten, Solidaritäten und Widersprüche auf verschiedenen Zeitebenen, im kleinen und im großen Maßstab verstehen.
Echos der Bruderländer beleuchtet diese Mikro- und Makro- Zusammenhänge durch künstlerische Forschungen, die sich in einer Ausstellung, in Performances, Workshops, einem Bildungsprogramm, einem Podcast, in Soundpraktiken sowie in digitalen und gedruckten Publikationen niederschlagen. Gesellschaftspolitische Beziehungen, psychologische Traumata und sozialistische Erfahrungen vor und nach 1989 werden reflektiert und sichtbar gemacht. Eine Workshop-Reihe in Berlin spürt den Kontinuitäten und Lücken im heutigen Deutschland nach und stellt generationenübergreifende Stimmen aus migrantischen Communitys der DDR in den Mittelpunkt. Workshops und Forschungsarbeiten von Partnerinstitutionen in Ghana, Algerien, Angola, Kuba und Vietnam fördern die transnationale und lokal verankerte Forschung sowie den Dialog vor Ort. Darüber hinaus rückt eine Forschungskooperation in Chile Perspektiven in den Vordergrund, die in der Deutschland-zentrierten Auseinandersetzung mit dem Erbe der DDR oft ausgeklammert werden.
Das Projekt geht der Frage nach, wie die Geschichte der Bruderländer und die sie umgebende Amnesie die Demografie, Kultur, Wirtschaft und Politik Deutschlands und der Bruderländer weiterhin prägen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Migrationsgeschichten innerhalb sozialistischer Bündnisstrukturen.
Mit der Ausstellung, die sich den Schnittstellen von Erinnerung und Amnesie widmet, schafft das HKW einen gemeinsamen Raum für die Erinnerung, das Zuhören und die Rekontextualisierung von Geschichten der Unterdrückung und Diskriminierung, Freude und Solidarität, Liebe und Trauer. Die Ausstellung stellt lebendige und subtile Bezüge zu generationsübergreifenden und transnationalen Erzählungen, Praktiken und Formensprachen her und wird von einem allgemein zugänglichen pädagogischen Programm begleitet, das in Zusammenarbeit mit verschiedenen Schulen und Bildungseinrichtungen erarbeitet wurde und sich an alle Altersgruppen einschließlich der Berliner Schüler*innen richtet. Ein Filmprogramm erweitert die Themen der Ausstellung und des öffentlichen Programms und stellt Filmschaffende aus verschiedenen Generationen vor, die in der DDR gelebt, studiert und gearbeitet haben oder familiäre Verbindungen zu diesem Staat unterhielten, der heute nicht mehr existiert. Filmische Positionen, die seit der deutschen Wiedervereinigung entstanden sind, beleuchten das Thema aus postmigrantischer Perspektive und verweisen auf neue transnationale Allianzen und Synergien über Deutschland hinaus.
Prof. Dr. Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
[1] Virtuelles Migrationsmuseum, Glossar: Vertragsarbeiter*in, https://virtuellesmigrationsmuseum.org/ en/Glossar/contract-worker/
[2] Isabel Eizenbach, Julia Oelkers, Loren Balhorn, ‘Crossing Borders Behind the Iron Curtain’ (19. Okt. 2021), https://www. rosalux.de/en/news/id/45200/crossingborders- behind-the-iron-curtain
[3] DOMID, Motivserie „Migrationsgeschichte in Bildern“, „Vertragsarbeiter“ in der DDR, https://domid.org/news/vertragsarbeitin- der-ddr/
[4] Eigensinn im Bruderland, Prolog, https:// bruderland.de/