Sung Tieu
1992, drei Jahre nachdem ihr Vater Arbeit in einem DDR-Stahlwerk in Freital gefunden hatte, kam Sung Tieu nach Deutschland. Sie verbrachte stundenlange Wartezeiten in Einwanderungsbüros, deren Erscheinungsbild ihr auch über drei Jahrzehnte später noch in Erinnerung geblieben ist. Durch Bezüge auf diese kalte, bürokratische Ästhetik, die sie aus den Tiefen ihrer eigenen Erinnerung und der ihrer Familie an zwei deutsche Einwanderungssysteme schöpft, legt Tieu die Komplikationen und Verschichtungen der ‚Ostalgie‘ frei. Sie setzt sich mit einem reichhaltigen Archiv scheinbar trivialer Regierungs- und Regulierungspraktiken auseinander und entschlüsselt deren Implikationen für Migration und Erinnerung im heutigen Deutschland. Damit entlarvt sie die vermeintliche Neutralität, Rationalität und Objektivität staatlicher bürokratischer Systeme und Ästhetiken als Konstrukte, die bestimmte politische Narrative legitimieren und aufrechterhalten. Tieu bezeichnet sich selbst als „langsame Produzentin“, was sie auf ihre forschungsintensive Praxis zurückführt, die eher prozess- als ergebnisorientiert ist. In einem Interview mit Guy McKinnon Little erklärte sie 2021: „Ich möchte nicht, dass die Recherche auf allzu lineare Weise in die Ausstellung einfließt, einfach weil ich nicht glaube, dass irgendetwas so geradlinig ist. Ich ziehe es vor, mit den Recherchen seitwärts zu gehen und sie mit anderen Dingen zu verflechten, die mehr mit meinem eigenen Leben oder momentanen Befinden zu tun haben.“ Zur Ausstellung trägt Tieu privates Filmmaterial über den Wohnkomplex für ehemalige vietnamesische ‚Vertragsarbeiter‘ in Ostberlin bei, in dem sie mit ihrer Familie lebte – heute eine Ruine und in den Händen neuer privater Eigentümer. Des Weiteren stellt sie Bezüge her zu einer Reihe von Dokumenten, in denen sich Belege für Versuche der Stasi befinden, beim Aufbau eines ähnlichen staatlichen Sicherheitsdienstes im ‚Bruderland‘ Vietnam Unterstützung zu leisten.
In Auftrag gegeben vom Haus der Kulturen der Welt (HKW), 2023–2024
Werk in der Ausstellung: One Thousand Times (2023), Super-8-Film auf Digitalfilm übertragen, Ton, 8′51″; A Secret Stasi For Vietnam (2023), 21 Digitaldrucke auf Papier, gerahmt, je 32,1 × 23,4 cm. Courtesy Sung Tieu