Übungen zur Verwandlung—Sergio Zevallos
Ausstellung, Archiv, Performances, Publikation
21.10.2023–14.1.2024
Die Codes der Macht laufen quer durch die Körper und verbinden das Politische mit dem Privaten. Die Ausstellung Exercises in Transformation – Sergio Zevallos im HKW widmet sich dessen über vierzigjähriger Praxis der Verkörperung, Erforschung und Umgestaltung herrschender Wissenssysteme. Für Zevallos beginnt die Arbeit der Transformation aufgezwungenen patriarchalischen und kolonialen Wissens im Körper, in diesem sehr persönlichen und intimen Bereich, und wird mittels Performativität, sozialen Choreographien und einem kritischen Realismus umgesetzt. Die Ausstellung beginnt mit einer Reihe neu in Auftrag gegebener Arbeiten Zevallos’, für die er auf Sociedad y Política im Archiv seiner Familie zurückgegriffen hat – eine Zeitschrift, die von dem dekolonialen Denker Anibal Quijano in Peru (1972–1983) gegründet und herausgegeben wurde und deren Mitherausgeber der Vater des Künstlers, Abraham Zevallos, war.[1] Mit einer Auswahl früherer Arbeiten Zevallos’ würdigt die Ausstellung den Werdegang des Künstlers und seine verschiedenen künstlerischen Experimente mit Gestik, Stimme, Sprache und Körper. Ein eigener interaktiver Raum ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem Archivo Ambulante (Wanderndes Archiv), das Teil von Zevallos’ performativer Underground-Arbeit mit dem Kollektiv Grupo Chaclacayo in Lima und Berlin (1982–1994) war.
[1] Dem Redaktionsteam gehörten unter anderem Julio Cotler, Cesar Germaná und Heraclio Bonilla an.
Die Ausstellung nimmt die Bedeutung von Praktiken in den Fokus, die Körper und Gesellschaft miteinander verbinden, und rückt Zevallos’ langjährige Beschäftigung mit politischen Kontexten in den Mittelpunkt, seinen unermüdlichen Widerstand gegen die Gewalt, die sexistische, frauenfeindliche, homophobe, rassistische und kriegslüsterne Gesellschaften kennzeichnet. Zusammen mit dem peruanischen Künstler Raúl Avellaneda und dem deutschen Künstler Helmut Psotta gründete Zevallos 1982 in einem Atelier am Rande von Lima die Grupo Chaclacayo. Das Kollektiv experimentierte mit Zeichnungen, Performances, Installationen und Fotografien und griff dabei auf prekäres, flüchtiges Material sowie eine populäre Bildästhetik zurück, wie sie im öffentlichen Raum zirkuliert, um grenzüberschreitende Werke zu schaffen, die sich mit der Gewalt der peruanischen Politik im Zuge des bewaffneten Konflikts zwischen der maoistischen Gruppe Sendero Luminoso und dem peruanischen Staat befassten. In seinen meist im Freien – auf Straßen, Stränden oder an verlassenen Orten – organisierten Performances verknüpfte Zevallos die Intimität des eigenen Körpers mit der sozialen Umgebung. In allegorischen Szenen, die religiöse, weltliche und politische Bezüge aufgriffen und transformierten, verkörperten die Performance-Künstler verschiedene Formen von Metamorphosen: den Märtyrer, das Androgyne, den Gefolterten, den Tänzer bei einem danse macabre oder den Anführer eines Leichenzugs. Diese Arbeiten, die radikale Fragen über den Körper, seine Unterdrückung und seine Befreiung von den gesellschaftlichen Konventionen des Geschlechts und der Konstruktion von Männlichkeit aufwarfen, gelten heute als als Grundstein einer queeren Ästhetik („estética marica“) in Peru, aber auch in ganz Abya Yala.
Mit ihrem Fokus auf die frühen, größtenteils in den 1980er Jahren entstandenen Arbeiten trägt Übungen zur Verwandlung – Sergio Zevallos dazu bei, den Körper als Mittel der Gesellschaftsanalyse und Transformation repressiver Ideologien zu rehabilitieren. In den Worten des Künstlers: „la trayectoria (artística) como un aprendizaje de desobediencias“ („ein künstlerischer Werdegang ist eine Lehre der Ungehorsamkeit“). Zevallos, der weiterhin Bilder und Texte bearbeitet, die öffentlich zirkulieren, um sich mit dem Körper und der Gesellschaft, dem Privaten und dem Öffentlichen auseinanderzusetzen, hat dreizehn Ausgaben von Sociedad y Política aus dem Archiv seiner Familie ausgegraben. Die Zeitschrift unterzog in ihren Artikeln die Strukturen von Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus einer radikalen Kritik und analysierte die Krise heutiger Machtkonstellationen als miteinander verbundene Krisen des Kapitalismus, des Patriarchats, der Ökologie und des Eurozentrismus. Damit trug Sociedad y Política zu den Debatten des Kalten Krieges bei, den Blick von Süden nach Osten und auf die Erfahrungen des Sozialismus in Kuba, Chile, Guinea-Bissau, Osteuropa und China gerichtet. Die Besprechungen fanden oft im Haus der Zevallos statt, und so konnte der junge Sergio den Diskussionen der Redaktion lauschen, die dafür das Wohnzimmer – sonst der Spielbereich der Kinder – in Beschlag nahm.
In der Ausstellung ist noch eine weitere Form von Performance zu sehen: Im Laufe der Jahre haben sich Termiten ins Familienarchiv gefressen und führen dort eine soziale und grafische Choreografie beim Verschlingen der Zeitschriften auf. Diese Art der Intervention in Texten und durch sie könnte man als ästhetische Form körperlicher konkreter Poesie der Termiten beschreiben, die durch ihre diminutive Lektüre neue Muster erzeugt. Die neue Arbeit Zevallos’ fordert also nicht zuletzt dazu auf, sich mit der Körperlichkeit, dem sozialen Gefüge, der Choreografie und dem Ungehorsam der Termitenpfade auseinanderzusetzen. Die Ausstellung stellt Spekulationen über den Horizont einer alternativen Logik an, in der sich die unentwegte Weiterbildung fortsetzt, die Zevallos in den vier Jahrzehnten seiner Auseinandersetzung mit der Transformation der „Kolonialität der Macht“ (Aníbal Quijano) angestoßen hat. Auf diese Weise lebt die dekoloniale Philosophie weiter, die auf den Seiten der Sociedad y Política ihren Anfang nahm.
Übungen zur Verwandlung – Sergio Zevallos ist Teil einer Reihe, die herausragenden Künstlerpersönlichkeiten aus der Diaspora gewidmet ist. Sie entwickelt ein Ausstellungsformat, das die Sprachen und Kontexte in den Vordergrund rückt, die die Arbeit der Künstler*innen in verschiedenen Communitys und an verschiedenen Orten prägen. Im Rahmen der kuratorischen retrospektiven Überlegungen zur Praxis der jeweiligen Künstler*innen sollen dabei auch neue, eigens für die Ausstellungen angefertigte Werke in Auftrag gegeben werden.
Sergio Zevallos beschäftigt sich in seinen Arbeiten mit Fragen der transkulturellen Identität, des Geschlechts und der Beziehung zwischen Individuum und Macht oder zwischen Intimität und den Codes der Institutionalität. Zevallos war Mitbegründer der Grupo Chaclacayo, eines Kunstkollektivs der 1980er Jahre in Lima, dem außerdem der deutsche Künstler Helmut Psotta (1937, Bottrop–2012, Wesel) und der peruanische Künstler Raúl Avellaneda (1960, Lima) angehörten und das sich mit den Schnittpunkten von Religion, Geschlecht und bewaffneten Konflikten in Lima befasste. 1989 siedelte das Kollektiv nach Deutschland über und organisierte die Wanderausstellung Todesbilder – Peru oder Das Ende des europäischen Traums, die in Ost- wie Westdeutschland zu sehen war. 1994 löste sich die Gruppe auf. Zevallos’ Arbeiten wurden u. a. im Künstlerhaus Bethanien, Berlin, im Württembergischen Kunstverein, Stuttgart, im MAC, MALI und Centro Cultural de España in Lima, im MACBA in Barcelona und im Museo Universitario de Arte Contemporáneo MUAC in Mexiko-Stadt gezeigt. Zevallos war auf der 31. Biennale von São Paulo 2014 und der documenta14 in Kassel und Athen 2017 vertreten. Zevallos wurde mit dem Villa Romana-Preis 2024 ausgezeichnet.
Besucher*inneninformation:
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