Kuratorisches Statement
Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld – Von (un)wirklichen Grenzen, (Un)Moral und anderen Überschreitungen
Forgive us our trespasses
As we forgive those who trespass against usVergib uns unsere Schuld
Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern
— Auszug aus dem „Vaterunser“Dann wurde der Geist
Körper
eingetaucht
in der Wasserdecke des Monsuns
tief benommen und herausgerissen
aus Farbe
Glauben
LandDer vage Schmerz
des Erinnerns
gestreut in
die Raumzeit
wie ein im Wald
verlaufenes Kind
ohne Scheu auf fremden Wegen
weil ihm alles unbekannt ist
angstlos vor der Dämmerung
weil alles
ein langer Abend ist
wandernd, da
sein unsicherer Schritt nach vorn
das Schicksal
seiner Füße ist.Dann doch erschrocken weil
der Wald endlos ist
und draußen
durch einen blassen Fleck
im grünen Dunkel
die Sonne blitzt und
wie eine Schimäre
die globale Düsternis
vertieft.Nur ein Trost:
Es gab
andere auch,
die in diesem Zwielicht weilten,
die Heimat und Land,
ja auch
Farbe verließen
die auch so lange reisten
und auch nie glücklich
waren.— Bahadur Tejani, „Leaving the Country“ / „Das Land verlassen“
Zeugnis der Überschreitung I
Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland sich mit der Niederlage abfand und nach den massiven Zerstörungen wieder auf die Beine kam, als die körperlich und seelisch verletzten, verstümmelten Soldaten nach Hause kamen und die Städte und Häuser in Schutt und Asche liegend vorfanden, da waren die Trümmerfrauen zur Stelle, um die Ärmel hochzukrempeln, den Schutt wegzuräumen und den Weg für den Wiederaufbau des Landes zu ebnen. Auch wenn die Geschichte der Trümmerfrauen im Laufe der Jahre mythisch aufgeladen worden ist, spielt sie noch immer eine wichtige Rolle in der Erzählung vom Wiederaufbau Deutschlands. Nachdem die Trümmer beseitigt waren, musste das Land wieder aufgebaut werden, doch da es an Arbeitskräften in der Industrie und im Bau, im Gesundheitswesen und im Entsorgungssektor fehlte, war die Regierung der Bundesrepublik gezwungen, Arbeitskräfte aus Mittelmeerländern wie Griechenland, Italien, Portugal und der Türkei sowie aus Südkorea anzuwerben. Solche ausländischen Arbeitskräfte waren auch schon vorher rekrutiert worden, doch erst das deutsch-italienische Anwerbeabkommen von 1955 formalisierte den Transfer der späteren Gastarbeiter in großem Umfang. Dazu kam ein bilateraler Vertrag mit der Türkei aus dem Jahr 1961, der einen Zustrom von Arbeitsmigranten auslöste, sowie ein Vertrag mit Südkorea aus dem Jahr 1963 zur Beschäftigung von Bergarbeitern im Steinkohlebergbau. Diese zunächst fast ausschließlich männlichen Migranten waren nicht nur für den buchstäblichen Wiederaufbau der BRD entscheidend, sie spielten auch eine wichtige Rolle für die Verjüngung und Ankurbelung der westdeutschen Wirtschaft und trugen so wesentlich zum sogenannten Wirtschaftswunder bei.
Trotz der erheblichen Bedeutung der Gastarbeiter für die deutsche Wirtschaft, war ihr Leben als Migranten in Deutschland wie auch das Leben ihrer größtenteils in Deutschland geborenen Kinder und Kindeskinder von gesellschaftlichen und institutionalisierten Formen der Ausgrenzung geprägt. Sie wurden als ‚anders‘ markiert und an den Rand der Gesellschaft gedrängt, waren Fremdenfeindlichkeit und Entmenschlichung ausgesetzt. Das Dasein eines sogenannten Gastarbeiters wurde in den Texten zweier türkischstämmiger Musiker prägnant eingefangen. Ozan Ata Canani singt in „Deutsche Freunde (Arbeitskräfte wurden gerufen)“:
Arbeitskräfte wurde gerufen
Unsere deutsche Freunde
Aber Menschen sind gekommen
Unsere deutsche Freunde
Nicht Maschinen sondern Menschen
Aber Menschen sind gekommen
Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde
Sie haben am Leben FreudeAus Türkei, aus Italien
aus Portugal, Spanien
Griechenland, Jugoslawien
Kamen die Menschen hierher
Unsere deutsche Freunde
Kommen die Menschen hierher
Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde
Sie haben am Leben FreudeAls Schweißer, als Hilfsarbeiter
Als Drecks- und Müllarbeiter
Stahlbau und Bandarbeiter
Sie nennen uns Gastarbeiter
Unsere deutsche Freunde
Sie nennen uns Gastarbeiter
Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde
Sie haben am Leben FreudeUnd die Kinder dieser Menschen
Sind geteilt in zwei Welten
Ich bin Ata und frage euch
Wo wir jetzt hingehören
Unsere deutsche Freunde
Ich bin Ata und frage euch
Wo wir jetzt hingehören
Unsere deutsche Freunde, Freunde, Freunde,
Sie haben am Leben Freude
In einem anderen sehr treffenden Lied mit dem Titel „Es kamen Menschen an“ (1984), das vom Leben und den Lebensbedingungen der Gastarbeiter erzählt, singt der Musiker Cem Karaca:
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen anMan brauchte unsere Arbeitskraft
die Kraft die was am Fließband schafft
Wir Menschen waren nicht interessant
darum blieben wir euch unbekannt[Refrain:]
Ramaramaramaramadah
Gastarbeiter
Ramaramaramaramadah
Gastarbeiter
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Es wurde Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen anSolange es viel Arbeit gab
gab man die Drecksarbeit uns ab
doch dann als die große Krise kam
sagte man, wir sind Schuld daran[Refrain]
Ihr wollt nicht unsere Kultur
nicht mit uns sein – Ihr wollt uns nur als Fremde sehn – so bleiben wir
Unbekannte dort wie hier[Refrain]
Es wurden Arbeiter gerufen
doch es kamen Menschen an
Es wurden Arbeiter gerufen
In ausdrucksstarken, schmerzlichen und melodiösen Worten erzählen die beiden Lieder von der entmenschlichenden und erniedrigenden Behandlung, die den Arbeitskräften und ihren Nachkommen trotz ihrer großen sozioökonomischen Bedeutung widerfuhr. Obwohl als Gäste geladen, wurden sie als Eindringlinge behandelt, so als hätten sie sich eines Vergehens schuldig gemacht. Die Möglichkeit, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, gab man ihnen kaum. Wohnungen wurden ihnen in den Randzonen und Industriegebieten der Städte zugewiesen, wo sogar italienisch-, portugiesisch- oder türkischsprachige Ärzte zu ihrer Versorgung herangezogen wurden. Ihr Aufenthalt in der BRD stand immer unter dem Vorzeichen, bloß vorübergehend zu sein, was ihren Status als vermeintliche Eindringlinge noch verfestigte. In einer Zeit, in der der öffentliche Diskurs in Deutschland wieder einmal darauf abzielt, Migrant*innen die Schuld an einer Vielzahl von Problemen zu geben – von gefährlichen Böllereien und Ausschreitungen an Silvester bis zum Chaos in deutschen Städten, von der Krise des Bildungssystems bis zur Arbeitslosigkeit, von Begriffen wie „Nafri“ oder „Nordafrikanische Intensivtäter“ bis zu Aussagen wie „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland“ – werden Migrant*innen als Eindringlinge behandelt, obwohl sie in ihrer großen Mehrzahl wirtschaftlich, sozial, kulturell und politisch zum Wohlstand Deutschlands beitragen.
Zeugnis der Überschreitung II
Im Alter von elf Jahren ging Kien für ihre weiterführende Schullaufbahn auf ein Internat, nachdem sie in der Grundschule ein oder zwei Klassen übersprungen hatte, um im Wettlauf des Lebens an der Spitze zu bleiben. Jetzt, im Nachhinein, fragt sie sich manchmal: Warum diese Eile? Wohin und für wen? Sie hat noch die Stimme ihrer Eltern im Ohr, die sie immer wieder ermahnten, dass sie nicht hintanstehen sollte, während ihre Altersgenoss*innen Geschichte schrieben.
Also verließ sie Brüder und Schwestern, Eltern und Freunde und war gezwungen, die nächsten sieben Jahre ihres Schullebens in Wohnheimen und Klassenzimmern, auf Sportplätzen und in Werkstätten zu verbringen – und sich vor allem auch zwischen diesen Räumen zu bewegen. Zwischenräume waren und sind entscheidend: Das Klassenzimmer oder das Wohnheim galten als die rechtmäßig zugewiesenen Aufenthaltsorte , die Zwischenräume hingegen – meist gepflegte Rasenflächen mit Hecken und aufgeräumten Wegen, die perfekten Ausgeburten einer kolonialen Vorstellungswelt – sollten nicht durchquert werden und waren noch viel weniger dazu bestimmt, sich in ihnen aufzuhalten.. Aber wie sie aus dem Mathematikunterricht wusste, ist die Diagonale der kürzeste Weg über eine rechteckige Fläche. Und das war der Weg, der sie am meisten anzog.
Fünf bis sieben Jahre zuvor war sie in der Sonntagsschule darauf konditioniert worden, das Vaterunser im Chor zu sprechen. Jeder einzelne Buchstabe des Vaterunsers war für Kien nicht mit Gold aufzuwiegen. Jedes Wort saß genau an seinem Platz, existierte innerhalb und doch außerhalb des sprachlichen Reichs der Metaphern. „Thy will be done, on earth as it is in heaven / Give us this day our daily bread; and forgive us our trespasses, as we forgive those who trespass against us / and lead us not into temptation, but deliver us from evil“. Im Himmel und auf Erden sollte sein Wille geschehen, er, der uns unsere Übertretungen (trespasses), unsere Sünden und unsere Schuld vergeben würde, wie auch wir unseren Schuldigern zu vergeben hatten. Damit war jede Form des trespassing, jedes Überschreiten oder Eindringen, auch außerhalb der Kirche, in den Zusammenhang von Himmel und Erde, Versuchung und Sünde gestellt. Kiens Existenz stand im Zeichen der Überschreitung.
Zeugnis der Überschreitung III
Wir können noch weiter in der Zeit zurückgehen: Kien wurde in Kamerun in eine englischsprachige Familie geboren, das heißt in die 20 Prozent der Bevölkerung ausmachende Sprachminderheit, die von den 80 Prozent der französischsprachigen Mehrheit des Landes wie Eindringlinge behandelt werden. In einem Land, das nach der Vereinigung von West- und Ostkamerun 1961 eigentlich ein föderaler Bundesstaat werden sollte, verloren die anglophonen Kameruner ihren föderalen Status und mussten sich 1972 in einen zentralisierten Einheitsstaat namens Vereinigte Republik Kamerun und später Republik Kamerun einfügen. Als in den 1980er Jahren in Kamerun das Fernsehen eingeführt wurde, wurden 20 Prozent der Sendezeit für die Figur des Eindringlings reserviert. Die Anglophonen wurden und werden immer noch abfällig als „les gauchers“ oder „les Biafrains“ bezeichnet. Ersteres bezog sich auf die Praxis des Linksverkehrs, den die anglophonen Kameruner im vereinigten Kamerun zwar nicht ausüben durften, der aber dennoch dazu diente, sie mit ihren britischen Kolonisatoren in Verbindung zu bringen, wodurch sie von ihren frankophonen Landsleuten als die ewig Anderen markiert wurden. Letzteres galt den Biafranern in Nigeria, die zwischen 1967 und 1970 in einem der heftigsten Kriege, die der afrikanische Kontinent je gesehen hat, ihre Unabhängigkeit erklärten. Beide Bezeichnungen sollen die englischsprachige Bevölkerung daran erinnern, dass sie in ihrem eigenen Land nur unerwünschte Eindringlinge sind. Es ist eine Erinnerung daran, dass sie Kameruner sind, aber anders. Es ist eine Erinnerung daran, dass im Land der Gleichen einige Menschen gleicher sind als andere.
Zeugnis der Überschreitung IV
Als Kien ihre Schulbildung in Kamerun abgeschlossen hatte und zum Studium in die BRD zog, war ihr der Begriff der Überschreitung (trespassing) zu einem vertrauten Begleiter geworden. Als sie in Deutschland ankam, reihte sie sich ein in die Schar der Italiener*innen Portugies*innen, Türk*innen und anderer Migrant*innen zweiter und dritter Generation, die als ewige Eindringlinge bekannt sind. Wenn sie mit den in Deutschland regelmäßig gestellten Fragen „Woher kommen Sie?“ und „Wann wollen Sie zurückkehren?“ konfrontiert wurde, war sie weder schockiert noch entmutigt über diese kaum verhohlene Gemahnung der Tatsache, dass sie nicht zum „Hier“ gehörte und weiterziehen – oder besser noch zurückziehen musste. Bei zwei Gelegenheiten jedoch wurde diese ständige Mahnung auf ein solch absurdes Niveau gehoben, dass sie die Erinnerung daran seitdem nicht mehr losgelassen hat.
Der erste Vorfall ereignete sich in einer Vorlesung an der Universität, wo sie und ein Freund dem Dozenten eine Nachfrage stellten. Der Dozent ging majestätisch und scheinbar großzügig auf sie zu, zwei der wenigen people of color in der Klasse, um sich ihre Frage anzuhören. Mit einer seltsamen Mischung aus Mitleid, Unverständnis und schierer Entgeisterung starrte der Tutor sie an und sagte: „Ich kann euch das nicht wirklich erklären. Das ist für euch schwer zu verstehen, denn da wo ihr herkommt, gibt es kein technisches Denkvermögen.“ Für die damals zweiundzwanzigjährige Kien war nicht die Dreistigkeit des Dozenten das eigentlich Schockierende, sondern seine Überzeugung, dass das, was er sagte, so wahr und unverrückbar wie das Evangelium sei.
Der zweite Vorfall ereignete sich gegen Ende ihres Studiums. Obwohl sie das System mehr oder weniger gut kannte und sich ihrer fast permanenten Rolle als Eindringling bewusst war, konnte sie die Bemerkung einer anderen Dozentin nicht einfach beiseiteschieben und wegstecken. Es war einer dieser schönen Berliner Sommernachmittage. Es war das Jahr des Abschlusses, und jede Prüfungsnote zählte. In einem Seminar mit anderen Studierenden wurde Kien von einer Dozentin bloßgestellt, die ihre Übung aus dem Stapel herauszog und fragte: „Wer hat diese Aufgabe für Sie gelöst?“ Kien war verblüfft und entsetzt. Auf ihre Antwort, wie sie darauf komme, eine solche Frage zu stellen, sagte die Tutorin mit ruhiger Stimme und einem leichten Lächeln: „Aus meiner langjährigen Dozententätigkeit an dieser Universität weiß ich, dass ausländische Studenten nicht so ein gutes Deutsch schreiben können.“ Die einzige Antwort, die Kien über die Lippen brachte, war: „Ich schreibe nicht nur auf Deutsch so, sondern auch in fünf anderen Sprachen.“
Diese beiden Momente beschreiben den Übergang vom passiven zum aktiven Eindringling. Mit ihrer Reaktion verkörpert Kien den Akt der Überschreitung. Sie setzte ihn als Widerstand ein gegen eine Gewalt, die sie immerzu in die Rolle der Außenstehenden drängt. Mit dieser Reaktion zeigte sie Chuzpe – sie folgte dem Lauf der Diagonale als einem Akt der Resilienz.
Zeugnis der Überschreitung V
Die Widerstandskraft, die Kien an den Tag legte, war nichts im Vergleich zu dem jungen Mann, der im Februar 2024 an der Atlantikküste vom senegalesischen Fernsehen interviewt wurde. Sein ganzes Dorf befand sich in einem Zustand der Trauer und Verzweiflung. Die Fernsehkamera zoomte dicht an die Gesichter der Frauen, Männer und Kinder heran, die bitterlich weinten, während der Reporter die Geschichte von einem Boot erzählte, welches das Dorf erst vor einer Woche verlassen hatte. Fast jede Familie in diesem Dorf hatte ein wenig Geld zusammengekratzt, um einem Sohn oder einer Tochter die Überfahrt auf einem der Boote zu bezahlen, die sie nach Europa bringen sollten. Einige Tage später erreichte das Dorf die Nachricht, dass es sich um eines der vielen gekenterten Boote handelte, die im Fernsehen zu sehen waren. Ein Schmerz lag in der Luft, und er war greifbar. Als der Reporter sich dem jungen Mann am Ufer mit dem Mikrofon näherte, sprach von der Trauer um seine Brüder und Schwestern, mit denen er jahrzehntelang zusammen gefischt hatte und deren Lebensgrundlage nun durch die Aneignung der lokalen Bestände durch internationale Fischereibetriebe ernsthaft bedroht war. Vor diesem Hintergrund erschien es ihm fast besser, sein eigenes Leben auf See zu riskieren, als seine gegenwärtige Situation zu ertragen.
Am 15. September 2023 berichteten Barbie Latza Nadeau, Chris Liakos, Claudia Colliva und Sharon Braithwaite von CNN, dass 7.000 Menschen auf der italienischen Insel Lampedusa angelandet waren, das eine Einwohnerzahl von etwa 6.000 hat. Der Bürgermeister von Lampedusa, Filippo Mannino, erklärte mit einem gewissen Mitgefühl: „Jetzt haben wir einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt und die Rolle dieses kleinen Felsens inmitten des Mittelmeers durch die Dramatik dieses Phänomens in eine Krise geraten ist“, während Italiens Infrastrukturminister Matteo Salvini die Ankunft der Migranten als „kriegerischen Akt“ bezeichnete.
Dieser kollektive Akt der Überschreitung erfolgte, nachdem die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Juli ein Abkommen mit Tunesien unterzeichnet hatten, in dem sie versprachen, 105 Millionen Euro zu investieren, wenn Tunesien Schleuser davon abhält, Afrikaner*innen nach Europa zu bringen. Dieses Geld, das investiert wird, um Eindringlinge in europäisches Hoheitsgebiet zu stoppen, ändert nichts an den Umweltschäden in verschiedenen afrikanischen Ländern; es ändert nichts an den politischen Krisen in der gesamten Sahelzone, die aufgrund der neokolonialen, ausbeuterischen Beziehungen Frankreichs zu seinen ehemaligen Kolonien ausgebrochen sind; es ändert nichts an den spanischen Schiffen, die vor der westafrikanischen Küste fischen; es ändert nichts an dem Abbau von Uran in Niger, Coltan im Kongo, von Diamanten in Sierra Leone und anderen Ressourcen auf dem gesamten afrikanischen Kontinent, für den Menschen für weniger als einen Hungerlohn arbeiten müssen; es unternimmt nichts, um die Diktatoren in Kamerun, Kongo-Brazzaville, Äquatorialguinea, Eritrea, Tschad und vielen anderen Ländern zu stoppen, die immer noch politische und wirtschaftliche Beziehungen zu Europa unterhalten; nichts, um europäische Unternehmen daran zu hindern, ihre giftigen Abfälle in verschiedenen afrikanischen Ländern abzuladen; nichts, um die europäischen Petrogesellschaften zu stoppen, die Erdöl fördern und die Umwelt in Angola, Kamerun, Gabun und Nigeria und vielen anderen Ländern zerstören.
Vielleicht war der junge Mann im Fernsehen einer der 7.000 Menschen, die es nach Lampedusa geschafft haben. Aus dem bequemen Raum der Rationalität heraus ist es einfach, diese Eindringlinge zu kritisieren. Aber wenn man sich im fünfzigsten Stock eines brennenden Gebäudes befindet, dann springt man nicht deshalb aus dem Fenster, weil man rational daran glaubt, eine Überlebenschance zu haben. Nicht der Verstand trifft in solchen Fällen die Entscheidungen, sondern ein Reflex, der von Dir verlangt, alles Mögliche zu tun, um das eigene und das Leben deiner Lieben zu retten. Eindringen als Reflex? Reflex als Widerstand?
Zeugnis der Überschreitung VI
Kiens Sekundarschule war konservativ und katholisch, sie wurde von Nonnen und Priestern geleitet, die ihr Leben der Keuschheit und dem Dienst an der Heiligen Dreifaltigkeit gewidmet hatten. Der Tag begann mit einer Messe und endete mit einem verkürzten Gottesdienst. Das Vaterunser war immer an der Tagesordnung, und allen wurde eingebläut, dass Sünden und Übertretungen jeder Art etwas Schlechtes sind. Die sonntägliche Beichte gab den Schüler*innen die Möglichkeit, den Priestern zu begegnen, ihnen all ihre begangenen Sünden zu offenbaren und um Vergebung zu bitten. Die Schüler*innen sagten diese Gebete auf und vertrauten darauf, dass Gott ihnen die Sünden vergeben würde.
Während die Schüler*innen um Vergebung ihrer Vergehen baten, wurde gemunkelt, dass einige der Priester, die ein Keuschheitsgelübde abgelegt hatten, Beziehungen zu Frauen innerhalb und außerhalb ihrer Diözese unterhielten, und einige hatten angeblich Familien, von denen die Schule nichts wusste. Man könnte diese Vorfälle zumindest als einvernehmliche Interaktionen zwischen Erwachsenen abtun, so sehr sie in den Augen der katholischen Kirche auch als Sünden gelten. Aber es gab auch Gerüchte über den sexuellen Missbrauch von Schüler*innen durch Priester. Während es sich in Kiens Schule um ein Gerücht handelte, wurde die katholische Kirche weltweit massiv mit Anschuldigungen gegen Priester konfrontiert, die Kinder in ihren Gemeinden missbraucht haben. Jahrzehntelang soll die katholische Kirche diese Vorfälle vertuscht haben. Es handelt sich hier keinesfalls um banale Übertretungen, sondern um gewalttätige, zerstörerische und räuberische Verhaltensweisen, die das Leben von Menschen zerstört haben, manchmal unter den wachsamen Augen der Kirche. Dieselben Geistlichen, die (gemeinsam mit ihren Kolleg*innen aus den evangelikalen Kirchen) der Pädophilie und anderer Gewalttaten beschuldigt werden, sind dort am lautesten, wo sie gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen als „Zuwiderhandlungen gegen den Willen Gottes“ wettern. Einige evangelikale Pastoren gehen auf Kreuzzüge auf dem afrikanischen Kontinent, in Amerika, Asien und anderswo, um Menschen von der „Sünde der Homosexualität“ zu bekehren. Wie soll man sich mit einer Realität arrangieren, in der Erwachsene gleichen Geschlechts, die einvernehmlich zusammenkommen, von Menschen verurteilt werden, die Minderjährige missbrauchen oder solchen Missbrauch decken?
Zeugnis der Überschreitung VII
In seinem bahnbrechenden Album The Clown von 1957 nimmt uns der legendäre Charles Mingus im gleichnamigen Titelstück mit auf eine Suche nach den düsteren Schattierungen der menschlichen Seele. Das Stück, das von Jean Shepard gesprochen wird, erzählt von einem eher fröhlichen, bunten Clown, der alles daran setzt, seine Zuschauer mit seinen Auftritten zu erfreuen. Dabei stellt er fest, dass sein Publikum immer dann, wenn seine Witze gewollt oder ungewollt Schmerzen und Leiden des Darstellers provozieren, umso heftiger lacht. Dies sollte der letzte Auftritt des Clowns werden:
...ein Seil riss
Die Kulisse kam runter, direkt auf den Nacken
Und er ging zu Boden
Etwas brach
Das war es
Es tat tief im Inneren weh
Er versuchte aufzustehen
Er schaute ins Publikum
Und du hättest, du hättest, du hättest die
Menschen sehen sollen
Sie wälzten sich im Gang
... Mann, jetzt wusste er es wirklich!
Aber es war zu spät
Und alles, was er wollte, war, die Menge zum Lachen zu bringen
Nun: Sie lachten
Aber jetzt wusste er es
Das war das Ende des Clowns
Und du hättest sehen sollen, wie die Buchungen reinkamen
Mann, sein Agent war rund um die Uhr am Telefon
Die Neigung, sich am Schmerz der anderen zu erfreuen, ist eine entlarvende Tatsache über die Menschheit.
Bei seinem radikalen Versuch, sich im rechten Winkel zu drehen, um dem Publikum zu gefallen, ließ der Clown sein Leben. Die Überschreitung wird zur Möglichkeit, gegen den Strom zu schwimmen. Sie bedeutet, die Abkürzung der Diagonalen zu nehmen, obwohl man sich der Gegenströmung bewusst ist.
Überschreiten...
Das Projekt Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld – Von (un)wirklichen Grenzen, (Un)Moral und anderen Überschreitungen lädt Künstler*innen, Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und andere dazu ein, über religiöse, soziale, klassenbezogene, nationale, sexuelle, disziplinarische und andere Formen des Überschreitens und Übertretens nachzudenken. Es handelt sich um ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt, das die Frage nach der Normativität in den Vordergrund stellt und danach, von wem und für wen die Forderungen der Normativität gestellt werden. Das Projekt verwendet verschiedene Narrative des Übertretens und Überschreitens als Mittel des Widerstands – ohne um Vergebung zu bitten, denn man muss sich nicht dafür entschuldigen, ein*e ‚Gastarbeiter*in‘ oder deren Nachkomme zu sein; man muss sich nicht dafür entschuldigen, dass man Zuflucht sucht, besonders wenn die Rechte von Geflüchteten durch die Genfer Flüchtlingskonvention und das UNHCR garantiert sein sollen; man muss nicht um Vergebung dafür bitten, dass man nicht an den Gott eines anderen glaubt oder an seine eigenen Götter und Vorfahren; man muss nicht um Vergebung dafür bitten, dass man queer ist; man muss nicht um Vergebung dafür bitten, dass man sich für eine bessere Umwelt und Zukunft einsetzt, indem man Indigenes Land besetzt und dadurch zurückerobert, wie kontraproduktiv dies auch immer für Normativität behauptende kapitalistische Extraktionsbemühungen sein mag.
Das Projekt Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld – Von (un)wirklichen Grenzen, (Un)Moral und anderen Überschreitungen denkt über die realen und metaphorischen Dimensionen des Überschreitens von Grenzen als Mittel zur Behauptung der eigenen Rechte, der Menschlichkeit und der Gemeinschaft nach, das Überschreiten von Grenzen als Mittel des epistemischen Ungehorsams, als Mittel der Subversion innerhalb heteronormativer patriarchaler und ‚weißer‘ Vormachtstrukturen, die geschlechtliche, rassische, sexuelle und klassenbedingte Ungleichheiten propagieren.
Trespassing / Überschreiten ist eine Möglichkeit, eine Vielzahl von Stimmen, Körpern und Positionen körperlich, geistig und spirituell zusammenzubringen, um über die Konstruktionen von realen und irrealen Grenzen nachzudenken, über die Konstruktionen dessen, was als moralisch oder unmoralisch, ethisch oder unethisch, richtig oder falsch, gerecht oder ungerecht gilt. Indem es unsere Körper performativ den Risiken der Überschreitung aussetzt, lädt das Projekt auch dazu ein, über psychosomatische Interferenzen innerhalb bestimmter Räume nachzudenken, die für ‚normative‘ Körper reserviert sind. Die teilnehmenden Künstler*innen sind also eingeladen, das HKW zu betreten, seine Räume umzudeuten, die Rasenflächen zu besetzen, neue Gemeinschaftsflächen zu schaffen und sie für andere Eindringlinge bewohnbar zu machen.
Das Projekt stellt die Frage: Wenn die Norm von Natur aus exkludiert, ist dann möglicherweise das Abnormale inklusiv und gastfreundlicher? Und welche Rolle können Künstler*innen dabei spielen, das Abnormale als Methode zu imaginieren? Ein Abnormales, das sich nicht damit beschäftigt, etwas ungeschehen zu machen, sondern vielmehr damit, einer Vielzahl von Möglichkeiten des Nebeneinanders und Miteinanders und sogar des Ineinandergreifens Raum zu geben. Als Eindringlinge wählen wir den Weg der Diagonale, aber wir erkennen an, dass es Raum für alle anderen gibt, die vielleicht den anderen Weg über den rechten Winkel nehmen wollen.
Mit anderen Worten: In dem Projekt Forgive Us Our Trespasses / Vergib uns unsere Schuld – Von (un)wirklichen Grenzen, (Un)Moral und anderen Überschreitungen geht es darum, alles, was Normativität beansprucht, zu durchkreuzen und zu durchqueeren. Es geht darum, sich zu krümmen, die verschlungenen Pfade des Lebens zu beschreiten, sich zu verirren und wiederzufinden – es geht um den Irrweg als Methode.
Am Anfang von Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity, schreibt José Esteban Muñoz:
QUEERNESS IST noch nicht da. Queerness ist eine Idealität. Mit anderen Worten: Wir sind noch nicht queer. Wir werden Queerness vielleicht nie berühren, aber wir können sie als das warme Leuchten eines von Potenzialität durchdrungenen Horizonts erspüren. Wir waren noch nie queer, und doch existiert Queerness für uns als eine Idealität, die aus der Vergangenheit destilliert und zur Vorstellung einer Zukunft genutzt werden kann. Die Zukunft ist die Domäne der Queerness. Queerness ist ein strukturierender und gebildeter Modus des Begehrens, der es uns ermöglicht, über den Sumpf der Gegenwart hinaus zu sehen und zu fühlen. Das Hier und Jetzt ist ein Gefängnis. Angesichts der totalisierenden Darstellung der Wirklichkeit im Hier und Jetzt müssen wir uns bemühen, ein Dann und Dort zu denken und zu fühlen. Manche werden sagen, dass alles, was wir haben, die Freuden dieses Augenblicks sind, aber wir dürfen uns niemals mit diesem minimalen Voranschreiten zufriedengeben; wir müssen neue und bessere Freuden, andere Arten, in der Welt zu sein, und schließlich neue Welten erträumen und verwirklichen. Queerness ist eine Sehnsucht, die uns vorwärts treibt, jenseits romantischer Negativität und der Mühsal der Gegenwart. Queerness ist das, was uns spüren lässt, dass diese Welt nicht genug ist, dass tatsächlich etwas fehlt. [...] Bei Queerness geht es im Wesentlichen um die Ablehnung eines Hier und Jetzt und ein Beharren auf der Potenzialität oder der konkreten Möglichkeit einer anderen Welt.
Es geht bei diesem Projekt also darum, die Domäne der Zukunft zu erforschen, zu imaginieren und zu queeren, indem Wege in ein künftiges Dann und Dort gesucht, aktiviert und beschritten werden. Es geht darum, neue und bessere Freuden zu erträumen und andere Seinsweisen in der Welt zu verwirklichen. Wege, die uns über die Romantik des Negativen hinausführen und uns erkennen lassen, dass diese Welt nicht genug ist.
In diesem Sinne geht dieses Projekt der Überschreitung von dem aus, was gemeinhin als Sünde gilt, in Wahrheit aber die tiefste Form der Rebellion ist, die uns offen steht.
Bonaventure Soh Bejeng Ndikung
Aus dem Englischen von Tobias Haberkorn