Jede Stunde, die vergeht, trägt ihren Teil zur Rotglut im Schmelztiegel bei, in dem die Welt fusioniert. Wir hatten nicht die gleiche Vergangenheit, ihr und wir, aber wir werden die gleiche Zukunft haben, unausweichlich. Das Zeitalter der Einzelschicksale ist längst vergangen. In diesem Sinne ist das Ende der Welt für uns alle erreicht, denn niemand kann mehr einzig und allein in der Bewahrung seines Selbst leben. – Cheikh Hamidou Kane[1]

heimaten. Eine Einführung

Alle Staatsgewalt geht laut Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom Volke aus. Über dieses Volk lassen sich einige Dinge sicher sagen: Nahezu 30 Prozent haben eine Migrationsgeschichte, und noch mehr werden eine Migrationszukunft haben. Menschen begehren unterschiedlich, haben unterschiedliche politische Meinungen, gehören unterschiedlichen Religionsgemeinschaften an, sind unterschiedlich alt, verfügen über unterschiedlich viel Einkommen und Eigentum. 

Wenn alle Staatsgewalt laut Grundgesetz vom Volke ausgeht, bedeutet das auch: Alle Staatsgewalt geht von der pluralen Gesellschaft aus. An dieser Realität setzt heimaten an, als ein Verb, weil Heimat eine Sache ist, die aktiv gestaltet wird und die sich im Moment der Gestaltung immer wieder neu schafft. Aber auch heimaten als ein Substantiv im Plural, weil Deutschland ein Ort der Pluralität ist, immer war und immer sein wird, mit städtischen Zentren, mittelstädtischen und ländlichen Regionen. Mit zwei Meeren, Inseln, Tiefebenen, Mittelgebirgen und den Alpen. An all diesen Orten leben Menschen, die in losen Zusammenschlüssen und Institutionen, Initiativen und Vereinen das gestalten, was wir in der Gegenwart als deutsche Gesellschaft und Kultur bezeichnen. 

In diesem Sinne markiert heimaten als Verb und als Substantiv im Plural keine Utopie, sondern eine Realität, die zentral ist für die Demokratie. Gleichzeitig steht die Demokratie aktuell politisch unter Druck wie schon lange nicht mehr. In diesem Sinne bedeutet heimaten auch, bestehende Strukturen und Erzählungen sichtbar zu machen, zu stärken und weiterzuentwickeln. 

heimaten. Die Geschichte

Die Wurzel des Begriffs – Heimat – ist in der Geschichte und Gegenwart vielfach missbraucht worden, um manche Menschen und Gruppen aus der Gesellschaft auszuschließen, ihre Zugehörigkeit infrage zu stellen oder sie für Missstände verantwortlich zu machen. Diese Art von Ausschluss bedeutet die Bedrohung von Existenzen, weil er das Schutzversprechen des deutschen Staates suspendiert. So kommt es, dass Menschen, die nicht als Teil dieser Gesellschaft anerkannt werden, nicht nur Ausgrenzung erfahren, sondern häufig auch mit ihrem Leben dafür zahlen. Auch der Staat selbst kann an der Gewalt teilhaben. Während die Ermordung George Floyds in den USA durch weiße Polizisten medial festgehalten wurde und weltweit Empörung auslöste, verbrannte in Deutschland am 7. Januar 2005 Oury Jalloh in einem Polizeirevier in Dessau, ohne dass die diensthabenden Polizisten bis heute zur Verantwortung gezogen wurden. Was eben als Staatsgewalt gelesen werden kann. 

Diese Art von Gewalt hat eine lange Geschichte in Deutschland. Spätestens Ende des 19. Jahrhundert verfestigte sich die unheilvolle und homogene Vorstellung der deutschen Gesellschaft, deren katastrophale Zuspitzung im Nationalsozialismus stattfand. Diese Geschichte entsprach schon damals nicht der Realität. Ab 1945 war man sich in der Bundesrepublik Deutschland dann einig, dass sich diese Katastrophe nicht wiederholen dürfe. Die Autor*innen des Grundgesetzes erklärten deshalb die plurale Demokratie, ihre Freiheitsrechte und Gewaltenteilung zur Grundlage der Verfassung des neuen westdeutschen Staates. 

Diese Tradition greift heimaten auf und fragt danach, wie der Geist des Grundgesetzes in der Gegenwart realisiert und für die Zukunft bewahrt werden kann. Der Homogenität nationaler Heimatvorstellungen stellt heimaten dabei die reale Vielheit der Gesellschaft gegenüber, nicht nur jene der gegenwärtigen, sondern auch die der historischen. Sie dreht die These von der Integration in die deutsche Leitkultur um, indem sie unterstreicht: Das, was wir heute als deutsche Kultur bezeichnen, ist das Ergebnis der Beiträge von Juden*Jüdinnen, Schwarzen, Muslim*innen, Sinti*zze und Rom*nja, queeren Menschen und zahllosen weiteren, die Teil der deutschen Gesellschaft waren und sind. In diesem Sinne ist die deutsche Kultur eben auch eine jüdisch-muslimisch-schwarze-sinti-und-roma-queere Kultur – sie bildet die Basis für die Gesellschaft, von der dem Grundgesetz nach alle Staatsmacht ausgeht. Wenn schon Leitkultur, dann plurale Leitkultur. Wenn schon Heimat, dann heimaten.

Dem historischen Faden soll aber auch in Bezug auf jene gewaltvollen Aspekte nachgegangen werden, die auf den ersten Blick wenig mit Deutschland zu tun haben. So jährt sich die Berliner Konferenz in den Jahren 2024/25 zum 140. Mal. 1884/85 wurde auf dieser Konferenz unter Leitung des Reichskanzlers Otto von Bismarck mit Vertretern europäischer Staaten sowie des Osmanischen Reiches und der USA der afrikanische Kontinent aufgeteilt, ohne Rücksicht auf die Realitäten und die Bedürfnisse der dort lebenden Menschen. Im Sinne der beteiligten europäischen Kolonialmächte wurden der Kontinent, seine Menschen und seine Ressourcen dabei Ausbeutung und Zerstörung preisgegeben. Das Konstruieren von Unterschieden beziehungsweise die ideologische Unterteilung der Welt in vermeintlich minderwertige und herrschende Menschengruppen bildete dabei das Fundament des kolonialen Ausbeutungssystems, das bis in die heutige Zeit strukturell nachwirkt. Die sogenannte Identität des Westens beruht auf diesen Ordnungen, Hierarchien und dem damit einhergehenden Rassismus. Das betonte Frantz Fanon schon 1956, das heißt vor Ende der Kolonialzeit, beim Ersten Kongress der Schwarzen Intellektuellen in Paris in seinem Vortrag „Racisme et Culture“. 

heimaten bedeutet, die Verbindungen in den Blick zu nehmen, die durch die Geschichte der Gewalt hergestellt worden sind: Wenn der Reichtum der Kolonien die Kolonialmächte gestärkt hat und heute weiterhin stärkt, steht den betroffenen Gesellschaften dann nicht ebenfalls ein Anteil an der Geschichte und Gegenwart der deutschen Kultur zu? Aber auch, was die Gesellschaften, die durch die Kolonialgeschichte miteinander in Beziehung gesetzt wurden, in der Zukunft noch hervorbringen werden, ist Teil der Betrachtung. Denn sobald sich Gesellschaften entscheiden beziehungsweise durch zunehmende globale Verflechtungen oder drohende Katastrophen dazu gezwungen sind, in enger Verbindung zu bleiben, ist es zentral, dass diese Beziehungen um neue Inhalte erweitert werden. Diese Inhalte müssen der Vergangenheit Rechnung tragen, die eine Vergangenheit der Gewalt ist. Zugleich müssen sie auch weitergehen, damit auf die Gewalt etwas Neues und etwas Besseres folgt.

heimaten. Die vielen Zukünfte

heimaten bedeutet also auch, danach zu fragen, welche Zukünfte wir den kommenden Generationen hinterlassen werden. Auch hier lohnt sich ein Blick auf die Geschichte. Denn wessen Geschichte auf welche Weise erzählt wird, bestimmt in der deutschen Gegenwart, wer zu dieser Gesellschaft dazugehört. Wenn bestimmte Menschen von der Erinnerung ausgeschlossen werden, bedeutet das auch, dass sie von einer symbolischen Teilhabe ausgeschlossen werden. Und wer von symbolischer Teilhabe ausgeschlossen bleibt, hat nicht den Eindruck, dass sie*xier*er eine Verantwortung für diese Gesellschaft trägt. In diesem Sinne ist ein Mangel an Pluralität in der symbolischen Ordnung auch ein Problem für die Demokratie, weil sie den nicht-repräsentierten Teil der Gesellschaft von Teilhabe ausschließt. Daher ist heimaten immer auch Demokratiearbeit und Demokratiestärkung.

Die Situation ist besser, als man angesichts der aktuellen politischen Zuspitzungen erwarten würde. Auch das unterstreicht heimaten. Denn Zukünfte sind schon jetzt in Arbeiten realisiert, die teilweise seit Jahrzehnten von Menschen überall geleistet werden: Modelle einer postmigrantischen Neuverortung der deutschen Gegenwart, einer jüdischen Selbstbestimmung durch Desintegration, der Dekolonisierung und neuen Fundierung von Beziehungsgeschichten für die Gegenwart und Zukunft durch Initiativen wie Decolonize und Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland (ISD) oder Adefra, die über den deutschen Kontext hinaus zur Heimatisierung Deutschlands beitragen, einer spezifisch deutschen Version der Kreolisierung im Sinne von Édouard Glissants Poetik der Vielheit.

In diesem Sinne bedeutet heimaten auch, Zukünfte sichtbar zu machen, die es bereits gibt. Man könnte dieses Verfahren als eine Art bezeichnen, Zukunft zu erinnern, bereits Bestehendes zu fokussieren und sichtbar zu machen.

heimaten. Das Programm

In heimaten treffen zivilgesellschaftliche Ansätze pluraler Demokratien auf das Potenzial ästhetischer Praxen. Im Zentrum stehen Erzählungen, Forschungsarbeiten durch Wissenschaft und Zivilgesellschaft sowie Vermittlungsformate. Dabei kommt gerade künstlerischen Formen in dieser Begegnung eine besondere Rolle zu, weil sie Anordnungen erlauben, die der Realität voraus sind und Übersehenes sichtbar machen können.

Das Projekt beginnt mit einem Auftakt am 14. und 15. September 2024 im Haus der Kulturen der Welt Berlin, welches fokussierte Diskussionen mit einer Ausstellungseröffnung, Musik und einem diskursiv-literarischen heimaten-Summer-Jam kombiniert. Der September 2024 ist außerdem der Auftakt für das heimaten-Netzwerk, welches Akteur*innen der pluralen Gesellschaft aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammenbringt. 

2025 startet eine Diskursreihe, die Strategien der Heimatisierung mit Fragen pluraler Erinnerungsarbeit zusammenbringt. Darüber hinaus finden zwei Festivals statt: Ende März das Festival De-Berlinisierung im Haus der Kulturen der Welt Berlin und das dezentrale heimaten-Festival, das mit Kooperationspartner*innen in allen sechzehn deutschen Bundesländern sowie in Österreich und der Schweiz den gesamten Monat September bis zur Bundestagswahl stattfinden wird.

Dr. Ibou Diop und Dr. Max Czollek, Ko-Kuratoren von heimaten
 

[1] Im französischen Original: „Chaque heure qui passe apporte un supplément d’ignition au creuset ou fusionne le monde. Nous n’avons pas eu le même passé, vous et nous, mais nous aurons le même avenir, rigoureusement. L’ère des destinés singulières est révolue. Dans ce sens, la fin du monde est bien arrivée pour chacun de nous, car nul ne peut plus vivre de la seule préservation de soi. “ Cheikh Hamidou Kane, L’Aventure ambiguë [1961], Paris: 10/18 2003, S. 92.