A. heimaten (Deutsch)

Wortart: Verb
Definition
1) Die Praxis, sich heimisch zu machen an einem geistigen oder physischen Ort, in einer Gegend oder einem Land, wo jemand aufgewachsen ist, wohin jemand migriert ist, wo jemand sich wohl fühlt

2) Die Praxis sich heimisch zu machen an einem geistigen oder physischen Ort, in einer Gegend oder einem Land, wo etwas/jemand stammt, wo etwas/jemand seinen/ihren Ursprung hat/sieht  

B. Heimaten (Deutsch)

Wortart: Substantiv, Pluralwort
IPA: [ˈhaɪ̯maːtn̩]
Grammatische Merkmale
Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ Plural des Substantivs Heimat (veraltet)

Ich habe ein neues Schiff bestiegen,
Mit neuen Genossen; es wogen und wiegen
Die fremden Fluten mich hin und her –
Wie fern die Heimat! mein Herz wie schwer!
– Heinrich Heine, Lebensreise

Anekdote I

WIR (ALLE) SIND DAS VOLK lautete der Titel eines Kunstwerks, das der deutsche Künstler Hans Haacke 2017 auf der documenta 14 in Athen und Kassel zeigte. Dieses bahnbrechende, als Langzeitprojekt angelegte Werk war bereits 2003 entstanden und trägt seine Botschaft bis heute in dreizehn Sprachen auf im öffentlichen Raum gezeigten Plakaten, Postern und Fahnen in die Welt. Von 2021 bis 2023 war der Schriftzug rund um die Neue Nationalgalerie zu sehen und vor einigen Jahren auch in der Umgebung von SAVVY Contemporary und anderen Institutionen in Berlin.

Die Stärke dieses Werkes liegt darin, dass es das gängige Verständnis des deutschen Begriffs Volk – und damit auch den Begriff der Heimat, der für das Verständnis dessen, was Deutschland war, ist oder sein will, so zentral ist – radikal infrage stellt. Einem Beschwörungskünstler gleich zerlegt Haacke das Fundament, auf dem das Deutschsein und seine singulären, einseitigen, einfarbigen, monoethnischen Projektionen aufgebaut sind, und gibt die einzelnen Bestandteile zurück in unsere Hände. Er fordert dazu auf, das Fundament neu zu gestalten, die Begriffe Volk und Heimat neu zu denken, und zwar nicht nur im Hinblick auf eine passive Zugehörigkeit, sondern auch auf eine aktive Gestaltung: zu hinterfragen, wer überhaupt an der Herstellung von Volk und Heimat teilhaben darf.

Um die Bedeutung der Arbeit WIR (ALLE) SIND DAS VOLK in ihrer ganzen Tragweite verstehen zu können, muss man mindestens bis ins Jahr 1998 zurückgehen. Damals wurde Haacke vom Deutschen Bundestag beauftragt, eine Skulptur für das Atrium des Reichstagsgebäudes zu schaffen, in dem das deutsche Parlament und somit die politische Repräsentanz des deutschen Volkes beheimatet ist. Haackes Vorschlag war die Installation DER BEVÖLKERUNG, die eine hitzige Debatte innerhalb und außerhalb des Bundestages auslöste, bevor sich eine Parlamentsmehrheit am 5. April 2000 für die Realisierung von Haackes Konzept entschied.

Die weitreichende Kontroverse rührte nicht daher, dass Haacke die Parlamentarier*innen aufforderte, Erde aus ihren Wahlkreisen nach Berlin zu bringen und auf der 21 x 7 m großen Grünfläche auszustreuen, aus deren Mitte in weißen Neonlichtbuchstaben die Worte DER BEVÖLKERUNG emporstrahlen. Die Arbeit bezieht sich auf die von Peter Behrens entworfene, 1916 am Reichstagsgebäude angebrachte Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE, die bereits der Architekt Paul Wallot selbst als Widmung für das 1894 fertiggestellte Gebäude vorgesehen hatte. Schon diese Inschrift hatte damals zu heftigem Streit geführt.

Haacke hatte es gewagt, das Parlament nicht dem deutschen Volk, sondern der Bevölkerung zu widmen. Am Ende des 20. Jahrhunderts stellte er zu Recht die Frage, wer mit Das Volk gemeint ist und wofür es nach den von Deutschland ausgehenden Gräueltaten steht. In mehreren Interviews unterstrich der Künstler, wie wichtig es sei, vom Volk zur Bevölkerung überzugehen, da die in den Bundestag gewählten Parlamentarier*innen die Aufgabe hätten, nicht nur diejenigen zu vertreten, die einen deutschen Pass besitzen – nicht nur die ‚historischen‘ Deutschen –, sondern alle Menschen, die in diesem Land leben.[1] In einem Interview mit dem Titel „Wem gehört das Volk?“, geführt von Matthias Flügge und Michael Freitag, benennt Haacke seine Motive:

In der deutschen Geschichte finden wir auch durchaus den Volksbegriff in der emanzipatorischen Tradition der Liberté, Égalité, Fraternité. Daher Worte wie Volksvertreter, Volksbühne, Volksschule, usw. Daneben ist der Volksbegriff aber – insbesondere in der Wortkombination „deutsches Volk“, die eine mythische, ausgrenzende Stammeseinheit impliziert – mit einem radikal undemokratischen Verständnis der res publica assoziiert. Es ist dies spätestens seit der Invasion der Römer ein dubioses Ahnenpassdenken, das den Verbrechen der „Volksgenossen“ den Weg bereitet hat. Und es ist dieser eine Blutsgemeinschaft suggerierende Volksbegriff, der immer noch Unheil stiftet, wie es Wahlergebnisse und rassistisch motivierte Gewalttaten belegen.[2]

Das Argument lässt sich auf die Geschichte des Begriffs Heimat übertragen. Es ist überraschend, dass Haacke, nachdem er das Konzept des Volkes hinter sich ließ, um mit der Bevölkerung zu arbeiten, einen weiteren radikalen Umschwung unternahm. Eine weitere Verschiebung, die den Begriff Das Volk umarmt, ihn aber elastischer und durchlässiger, anpassungsfähiger und gastfreundlicher werden lässt: WIR (ALLE) SIND DAS VOLK. Die Betonung liegt hier offensichtlich auf ALLE, als wolle Haacke damit sagen, dass man Begriffe wie Volk oder Heimat nicht denen überlassen darf, die sie für fremdenfeindliche, ausgrenzende und rassistische Zwecke instrumentalisieren.

Haackes Arbeit für die documenta 14 im Jahr 2017 entstand zu einem kritischen Zeitpunkt in der europäischen Geschichte des frühen 21. Jahrhunderts. Sie fiel in eine Periode, in der der Rassismus in Deutschland zunahm und die Zahl gewalttätiger Übergriffe gegen Ausländer*innen und insbesondere gegen Geflüchtete anstieg. Mit Ländern wie Ungarn, Polen, Dänemark, Frankreich, Italien und Deutschland erlebte ein großer Teil Europas eine Wiedergeburt oder Neukonzeptionierung nationalistischer Tendenzen. Haackes Werk entstand zu einer Zeit, als in Deutschland Unterkünfte von Geflüchteten brannten, Bürger*innen die Arbeit der Feuerwehr behinderten und dabei Parolen wie „Wir sind das Volk“ riefen.[3] Haacke schien zu glauben, dass Worte wie Volk oder Heimat trotz ihres historischen Ballasts nicht verworfen, sondern wieder angeeignet und neu definiert werden mussten. Er schien auf eine Praxis des Verlernens zu setzen.

Dem Statistischen Bundesamt zufolge haben 22,6 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund.[4] Aktuelle Studien belegen, dass Deutschland jedes Jahr eine halbe Million Fachkräfte mit Migrationshintergrund benötigt.[5] Wie Haackes Arbeit deutlich macht, müssen die Begriffe Volk und Heimat radikal überdacht werden. Die Idee hinter dem Begriff Volk sollte und konnte es sich nie leisten, all diese Menschen auszuschließen. Zumal es ein singuläres, einheitliches, kohärentes oder homogenes deutsches Volk niemals gab, denn das Konstrukt „deutsch“ setzte und setzt sich aus Menschen aus Bayern, Preußen, Sachsen, Böhmen, Dänemark, aber auch Syrien, Iran, Ghana, Nigeria, Marokko zusammen. Die Vorstellung von dem einen homogenen, einfarbigen und linearen Volk oder einer so gefassten Heimat muss verlernt werden.

Anekdote II

Als die deutsche Fußballnationalmannschaft der Männer 2014 die Weltmeisterschaft in Brasilien gewann, stieg Mesut Özil schnell zu einem Aushängeschild der deutschen Fußballkultur auf. Er repräsentierte eine neue Generation von Nationalspielern, die sich in einem Doublebind kultureller Identitätszuschreibungen befanden, jedoch kein Blatt mehr vor den Mund nahmen, wenn es darum ging, die Doppelmoral zu benennen, an der sie gemessen wurden: Wenn Özil ein Tor schoss, dann für Deutschland. Es zählte allein, dass dieser aufstrebende Star entscheidend zu Deutschlands Höhenflug am Fußbalhimmel beitrug. Spielte er jedoch weniger gut oder verlor, wurde er sogleich von Kommentator*innen, Fans und Fußballfunktionär*innen als türkisch-deutscher Fußballer betrachtet.

Manchmal ist es nur ein Bindestrich, der darüber entscheidet, ob man zur deutschen Heimat dazugehört oder nicht. Manchmal reicht ein Bindestrich als Prüfstein, der einen daran erinnert, dass man nicht in vollem Umfang dieser Heimat angehört, sondern nur zu einem Bruchteil.

Mesut Özils politische Neigungen und sein Leben sind seither immer wieder Gegenstand öffentlicher Debatten gewesen. Sein kumpelhafter Handschlag mit dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdoğan sowie ein Selfie, das sein Tattoo eines heulenden Wolfs mit drei Halbmonden zeigt – ein Symbol der türkischen faschistischen Gruppe Bozkurtçular, auch bekannt als Graue Wölfe – zeichnen ein zweifelhaftes, wenn nicht verheerendes Bild seiner politischen Überzeugungen. Nachdem Özil selbst zur Zielscheibe einer rassistischen Kampagne wurde, in der darüber debattiert wurde, ob er deutsch genug sei und ob er Teil eines deutschen Heimatkonstrukts sein könne oder nicht, traf er 2018 die schwerwiegende Entscheidung, sich aus der deutschen Nationalmannschaft zurückzuziehen. Er begründete dies mit den Worten: „Ich wurde in Deutschland geboren und ausgebildet, also warum akzeptieren die Leute nicht, dass ich Deutscher bin?“ und „Gibt es Kriterien, ein vollwertiger Deutscher zu sein, die ich nicht erfülle?“[6]

Es war nicht das erste Mal, dass sich ein Fußballer über Rassismus im Sport in Deutschland beschwerte, aber diese Ausgrenzung, diese Infragestellung seiner Identität und Nationalität war für Özil der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er sprach von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland, die sich gegen einen deutschen Staatsbürger richten, und entfachte damit eine neue Debatte über deutsche Staatsbürgerschaft und Migration, über Religion und Weißsein. Während Özil für seine harsche Abrechnung vom Deutschen Fußballbund (DFB) und der Presse scharf kritisiert wurde, erhielt er zugleich vielfach Unterstützung von verschiedenen Migrant*innengemeinschaften in Deutschland, die täglich mit der Frage konfrontiert sind, ob und wenn ja in welchem Maße sie dazugehören oder nicht. Unterstützung kam auch von Politiker*innen wie der damaligen Bundesjustizministerin Katarina Barley (SPD), die von einem „Alarmzeichen“ sprach, „wenn sich ein großer deutscher Fußballer wie Mesut Özil in seinem Land wegen Rassismus nicht mehr gewollt und vom DFB nicht repräsentiert fühlt“, oder vom damaligen stellvertretenden SPD-Vorsitzenden Thorsten Schäfer-Gümbel, der „an alle Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichen Wurzeln“ appellierte: „Wir gehören zusammen, und wir akzeptieren Rassismus never ever.“[7]

Wie bereits erwähnt, ist Migrant*innen der ersten, zweiten, dritten oder anderer Generationen die verunglimpfende Erfahrung, dass die eigene Identität und Zugehörigkeit im Alltag infrage gestellt wird, nur allzu gut bekannt. Es reicht bereits, wenn der eigene Name oder Phänotyp aus dem engen Rahmen dessen fällt, was als „deutsch“ gilt oder nicht der vermeintlichen Gradlinigkeit und Einfarbigkeit der Vorstellung von „Heimat“ entspricht.

Anekdote III

Im Jahr 2018, dem Jahr des Rücktritts von Özil, inszenierte SAVVY Contemporary eine Beschwörung mit dem Titel CARESSING THE PHANTOM LIMB. HEIMAT – PROGRESSION, REGRESSION, STAGNATION? für die vom Auswärtigen Amt organisierte Lange Nacht der Ideen. Ausgangspunkt der Überlegungen zum Thema Heimat war eine Aussage der renommierten deutschen Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller bei einer Lesung im Literarischen Colloquium Berlin am 11. November 2009: „Heimat ist, was man nicht ertragen kann, wenn man dort ist, und nicht loslassen kann, wenn man weg ist.“[8]

In einem Aufsatz mit dem Titel „‚Phantomschmerz im Erinnern‘ bei Herta Müller. Heimat als konstruierter und dekonstruierter Raum“ schreibt Garbiñe Iztueta über das komplexe Verhältnis der in Rumänien geborenen deutschen Autorin zum Heimatbegriff. Iztueta zitiert mehrere Aussagen Müllers aus ihrem Sammelband Heimat oder der Betrug der Dinge (1997), darunter: „Wenn ich mich zu Hause fühle, brauche ich keine ‚Heimat‘. Und wenn ich mich nicht zu Hause fühle, auch nicht.“ Iztueta weist darauf hin, dass Müller in Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel (2011) ihre affektive Beziehung zur Heimat als „Phantomschmerz im Erinnern“ und „irrationale Sehnsucht“ beschreibt. Anschließend analysiert Iztueta den Begriff der Heimat in Herta Müllers Werk wie folgt:

Das Werk Herta Müllers wird der Anti-Heimat-Literatur zugeordnet, im engen Zusammenhang mit ihrem „fremden Blick“, der als dekonstruierendes Mittel fungiert. […] Müllers fremder literarischer Blick fungiert als solches dekonstruierendes Verfahren, was den Diskurs der tradierten und instrumentalisierten banatschwäbischen Heimat anbelangt. Heimat wird im Kontext der banatschwäbischen Realität von Herta Müller als Verlogenheit dargestellt und ihre identitätsstiftende Funktion als Täuschung („Heimat oder der Betrug der Dinge“). So versucht sie den Begriff als ein instrumentalisiertes Konstrukt zu enttarnen. Dem traditionellen Begriff „Heimat“ liegen mehrere Merkmale zugrunde, die naturgegeben scheinen, die aber Herta Müller in ihrer Erzählung zerlegt: stabiles und harmonisches Nahverhältnis zwischen Ich und Heimat; Verständlichkeit und Durchschaubarkeit für das Ich (zum Beispiel Raumorientierung); Möglichkeit für sinnvolles Handeln, was als Opposition zu Fremdheit und Entfremdung fungiert.[9]

Diese Überlegungen bildeten die Grundlage für das Projekt CARESSING THE PHANTOM LIMB. HEIMAT – PROGRESSION, REGRESSION, STAGNATION? und den Ausgangspunkt, um über den Heimatbegriff nachzudenken: Wer hat die Möglichkeit, Teil von Heimat zu sein und sie mitzugestalten? Wer wird ausgeschlossen? Wer wird geduldet? Welches Verhältnis besteht zwischen Heimat und Herkunft, Religion, Klasse und Ethnie? Hier überschneiden sich Müllers Gedanken über Heimat mit den Schriften von Olu Oguibe, der in seinem Essay „Imaginary Homes, Imagined Loyalties. A Brief Reflection on the Uncertainty of Geographies“ schreibt:

Unsere Bindung an den Ort unserer Geburt ist eine einseitige Angelegenheit. Es ist eine ambivalente Bindung, die aus einer einseitigen Loyalität und einer Neigung zum Besitz erwächst, ein verzweifeltes Streben danach, dazuzugehören, Anspruch auf etwas zu erheben, das im Gegenzug keinen Anspruch erhebt. Aus dem Mutterleib und dem Körper, der uns geboren hat, herausgerissen und in die Leere des Lebens und der Existenz hineingezogen, sehnen wir uns danach, uns an etwas zu binden, an einen Moment, einen Ort, ein Ereignis; wir sehnen uns nach einem Anker, den wir leicht in den Umrissen des Hauses, in dem wir aufgewachsen sind, in den Straßen unserer Kindheit, in der Stadt unserer Geburt finden. Aber die Stadt hat ein anderes Verlangen und eine andere Antwort, denn wir brauchen die Stadt mehr als die Stadt uns.[10]

Oguibes Beobachtungen stimmen mit Müllers Bemerkung überein, dass „Heimat das ist, was man nicht ertragen kann, wenn man da ist, und was man nicht loslassen kann, wenn man weg ist“. Die Provokation liegt in der Umkehrung. Was, wenn Überidentifikation mit einer bestimmten Heimat und dem übermäßigen Ausschluss anderer eine Überkompensation ist? Wenn sie auf eine Sehnsucht nach etwas zurückzuführen ist, das verloren ist oder niemals da war? Wenn Menschen in ihrer „Heimat“ sind, aber dennoch den Verlust dieser Heimat spüren, dann ist dieses Ding namens Heimat vielleicht schon längst weg, hat nie wirklich existiert oder hat sich sogar schon bei Geburt oder mit dem Erwachen des Bewusstseins aufgelöst.

ˈhaɪ̯maːtn̩

Was aber, wenn Heimat nicht im Sinne von Singularität, Einfarbigkeit, ethnischer Homogenität und Linearität gedacht würde? Was, wenn Heimat ein inklusiver Begriff wäre? Wenn er die verschiedenen Wesen und Kulturen in sich aufnähme, die einen geistigen oder physischen Raum oder eine bestimmte geografische Einheit ausmachen, und sie zu besseren, respektvollen, humanitären, dem Wohlergehen des Planeten zugewandten Räumen macht? Wenn Heimat keine Konstante wäre, sondern Prozess, Projekt und Praxis? Nichts Gegebenes, sondern etwas Zu-Gestaltendes, ein Projekt von allen, die diesen geistigen oder physischen Raum ausmachen und ihn angenehmer gestalten wollen?

heimaten ist ein mehrjähriges Projekt und Netzwerk, an dem Einrichtungen und Initiativen in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz beteiligt sind. Folgendes ist entscheidend:

  1. Es wird ein Wechsel von einer singulären Heimat zu pluralen Heimaten vollzogen. Die Vielfalt der Heimaten, die den deutschen Vorstellungsraum und das deutsche Staatsgebiet ausmachen, sollen nicht im Widerspruch zueinander stehen, sondern alle für die Gesellschaft charakteristischen Facetten, Schattierungen und Schichten aufnehmen und feiern. Diese Heimaten sind sächsisch, anatolisch, schwäbisch, vietnamesisch, ghanaisch, bayerisch, nigerianisch und vieles mehr. Sie sind christlich, jüdisch, islamisch, hinduistisch, heidnisch, atheistisch, nichts davon und mehr. Das Projekt verkörpert die Idee und Praxis, dass Heimaten mehr sind als die Summe ihrer Einzelteile. Seinen gemeinsamen Nenner findet es in der Achtung für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
  2. heimaten wird als Praxis, als Verb und Übung aufgefasst. Es ist keine gegebene, sondern eine formbare Struktur, die nur entstehen kann, wenn jede*r in dieser Gesellschaft aktiv an ihrer Gestaltung mitwirkt. Man kann sich Heimat als einen Muskel vorstellen, der durch den Prozess des heimatens trainiert werden muss, um in Form zu bleiben. Menschen verschiedener Glaubensrichtungen, Kulturen und Hautfarben, die diese Räume bewohnen, sind aufgerufen, sich an dieser Übung zu beteiligen.
  3. Es wird eine Gruppe für gemeinsame Recherchen-, Diskussionen und Gedankenaustausch eingerichtet, die jährlich zusammenkommt, um über Fragen des heimatens zu beraten und Empfehlungen auszusprechen. Dazu gehören die Theorien und Praktiken der Post-Heimat[11], die eine Umleitkultur statt einer Leitkultur vorschlagen, in der Christentum, Weißsein und Männlichkeit keine unausgesprochenen Voraussetzungen für soziale Normen mehr sind, sondern mit queeren, nicht-normativen Kulturen einhergehen. Kurz gesagt: Umwege werden den geraden Straßen vorgezogen.[12] Postmigrantische[13] Theorien und Praktiken, die gegenwärtig in politischen, kulturellen und sozialen Sphären in Deutschland, Europa und darüber hinaus verhandelt werden, sind für diese Diskussionen entscheidend. Kulturtheoretiker*innen, Philosoph*innen und Akademiker*innen mit unterschiedlichem Hintergrund, Künstler*innen, Aktivist*innen und andere sind eingeladen, heimaten in Theorie und Praxis als Oberbegriff auszuarbeiten, der die Anliegen von Post-Heimat, des Post-Migrantischen und des Post-Kosmopolitismus in sich aufnehmen könnte. Eine der vielen vor uns liegenden Aufgaben besteht darin, sich eine Gesellschaft vorzustellen, die nicht auf der Grundlage von „Integration“ oder „Toleranz“ funktioniert, sondern auf gegenseitigem und wechselseitigem Respekt, unabhängig von der Herkunft des Nachnamens, des Geburtsortes, des Geschlechts, des Alters und der sozialen Klasse, unabhängig von religiösen oder kulturellen Überzeugungen, solange sie menschliche Werte und die Erhaltung des Planeten respektieren.
  4. heimaten berücksichtigt die Möglichkeit des Be-heimatens. Wie der Anthropologe Jonas Tinius betont,[14] umfasst das Verb beheimaten den Begriff der Gastfreundschaft und bedeutet, jemandem oder etwas ein Zuhause zu geben. Die Vorsilbe „be-“ in beheimaten klärt weder die Grundfrage, wer Teil dieses psychologischen und physischen Raums ist, noch klärt sie, wann, wie und wie lange dies der Fall ist. Auch Haackes Bezug auf die Bevölkerung klärte die Frage des Volkes nicht abschließend. Deshalb sollte heimaten buchstäblich und metaphorisch als ein Substrat aufgefasst werden. Hier stellt sich die Frage nach der Praxis. Wer hat die Befugnis, jemand anderem „eine Heimat zu geben“? Zu heimaten bedeutet, aktiv eine Heimat zu schaffen. Es ist die Ausübung der ihr innewohnenden Macht, Zugehörigkeit zu ermöglichen. Da das Beheimaten nicht auf die menschliche Spezies beschränkt ist, sondern das Beheimaten von Pflanzen, Tieren und anderen Spezies einschließt, bietet es auch die Möglichkeit, von menschlicher Handlungsmacht auf andere, nicht-menschliche Handlungsfähigkeiten überzugehen.

Mit der Unterstützung durch Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien lädt das Haus der Kulturen der Welt von 2024 bis 2027 wissenschaftliche und kulturelle Akteur*innen ein, in den Räumen des HKW und in Kooperation mit zahlreichen institutionellen Partnern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu heimaten. Musiker*innen, Geschichtenerzähler*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen, Köch*innen, Wissenschaftler*innen und Mitwirkende aus allen Bereichen des Lebens sind eingeladen, sich an der Konjugation des Verbs heimaten zu beteiligen.

Dieses Projekt ist eine Möglichkeit,[15] die Heimat zu verlernen, um stattdessen mit dem heimaten zu beginnen.

 

[1] Vera Stahl, „Hans Haacke: ‚Der Reichstag ist ein imperialer Palast‘“, Spiegel Online (12. September 2000), www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/-a-92860.html

[2] Matthias Flügge, Michael Freitag, Hans Haacke, „Der Bevölkerung: Wem gehört das Volk?“, derbevoelkerung.de/wem-gehoert-das-volk/. Zuerst veröffentlicht in neue bildende kunst, 9/7 (1999), S. 22–24.

[3] Philip Oltermann, „Crowd cheer fire at hotel being converted into refugee shelter in Saxony“, The Guardian (21. Februar 2016), www.theguardian.com/world/2016/feb/21/crowd-cheers-fire-hotel-refugee-shelter-saxony-germany

[4] „Erwerbsmigration im Jahr 2022 stark gestiegen“, Statistisches Bundesamt (27. April 2023), www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/04/PD23_165_125.html

[5] Dirk Kaufmann, „Welche Fachkräfte braucht Deutschland wirklich?“, DW (4. April 2023), www.dw.com/en/what-skilled-workers-does-germany-really-need/a-65223664

[6] „Deutscher, wenn wir gewinnen, aber Immigrant, wenn wir verlieren“, neues deutschland (23. Juli 2018), www.nd-aktuell.de/artikel/1095096.mesut-oezil-deutscher-wenn-wir-gewinnen-aber-immigrant-wenn-wir-verlieren.html

[7] „Deutscher, wenn wir gewinnen, aber Immigrant, wenn wir verlieren“, neues deutschland (23. Juli 2018).

[8] Garbiñe Iztueta, „‚Phantomschmerz im Erinnern‘ bei Herta Müller. Heimat als konstruierter und dekonstruierter Raum“, literaturkritik.de (9. Oktober 2015), literaturkritik.de/id/21207

[9] Iztueta, „‚Phantomschmerz im Erinnern‘ bei Herta Müller“.

[10] Olu Oguibe, „Imaginary Homes, Imagined Loyalties. A Brief Reflection on the Uncertainty of Geographies“, in ders., Interzones: A Work in Progress, hg. v. Octavio Zaya, Anders Michelsen, Kopenhagen: Tabapress, 1996.

[11] Projekt des PostHeimat-Netzwerks, postheimat.com

[12] Nora Haakh, Jonas Tinius, Ruba Totah, „Problematising PostHeimat“, PostHeimat Network (April 2020).

[13] Naika Foroutan, „Post-Migrant Society“, Kurzdossiers, Bundeszentrale für politische Bildung, (21 April 2015), www.bpb.de/themen/migration-integration/kurzdossiers/205295/post-migrant-society

[14] In einem privaten Gespräch mit dem Autor.

[15]  „Verlernen ist nicht Vergessen, es bedeutet nicht Löschen, Annullieren oder Verbrennen. Es bedeutet, mutiger und neu zu schreiben. Kommentieren und Hinterfragen. Neue Fußnoten zu den alten hinzufügen und andere Erzählungen erzählen. Den Staub abwischen, das Gras und das Pflaster aufreißen, das über dem Ausgelöschten liegt. Verlernen bedeutet, die Münze zu werfen und die Gespenster zu wecken. In den Spiegel zu schauen und die Welt zu sehen, und nicht ein Konzept des Universalismus, das tatsächlich eine Hegemonie des Wissens vorgibt.“ Savvy Contemporary, „Unlearning the Given: Exercises in Demodernity and Decoloniality of Ideas and Knowledge“ (2016), https://savvy-contemporary.com/en/events/2016/unlearning-the-given