Kuratorischer Essay
Das arabische Wort musafiri klingt mit einer erstaunlichen phonetischen Kohärenz in unterschiedlichen Sprachen und Kulturräumen an. Von Rumänisch über Türkisch, Farsi, Urdu, Hindi, Swahili, Kasachisch, Malaiisch und Uigurisch umfasst das Gebiet seines Auftretens einen eindrucksvollen, weiten geografischen Raum. Während das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung und in den meisten dieser Sprachen den Reisenden bezeichnet, beschreibt es im Türkischen und Rumänischen den Gast, also die besondere Position des Willkommenseins. Ganz besonders im Rumänischen schwingt in musafir das Privileg des häuslichen Bereichs mit. Es ist ein Wort, das für diejenigen reserviert ist, die man im eigenen Heim empfängt. Die Ausstellung Musafiri: Von Reisenden und Gästen wurzelt in dem Bemühen, eine Welt zu ermöglichen, in der Reisende ankommen können und als Gäste empfangen werden. Sie folgt Welten, die von furchtlosen Reisenden, von in der Vergangenheit unfreiwillig verschleppten Individuen und Communitys sowie den immer dramatischeren Migrationsbewegungen im Hier und Jetzt miteinander verflochten wurden. Die Ausstellung durchquert Welten, die sich eröffnen, wenn man die Begrenzungen der gewohnten Umgebung verlässt, und sie verfolgt die vielen künstlerischen Begegnungen, die daraus hervorgegangen sind.
Musafiri: Von Reisenden und Gästen spricht aus der Position der Gegenwart und nimmt dabei die aktuellen Ausprägungen wesentlich älterer Spannungen in den Blick, die um die Frage kreisen, wer willkommen ist und wer nicht, wessen Perspektiven willkommen sind und wessen Perspektiven nicht willkommen sind, und wer über diese Grenzbereiche entscheidet. Die Politik unserer Zeit (und dabei ist Deutschland eines der augenfälligsten Beispiele) ist in vielerlei Hinsicht von Ängsten geprägt, die aus der vermeintlichen Bedrohung der etablierten (und häufig hegemonialen) und in den jeweiligen lokalen Blickwinkeln verankerten Sichtweisen auf die Welt herrühren. Als solche ist die Ausstellung ein dringendes Plädoyer für die Anerkennung und Bestärkung der polyphonen Welten all derer, die sich von den Orten ihrer Herkunft gelöst und auf den Weg gemacht haben.
Um an diesen Punkt zu gelangen, muss die Ausstellung einige Umwege nehmen (eine für viele Reisende vertraute Erfahrung), die allerdings eher durch die Zeit als durch geografische Räume verlaufen. Reisen und Suchen waren grundlegende Bestandteile der Vorstellungen von persönlicher Entwicklung, wie uns viele der lange überlieferten Geschichten sowie Debatten auf dem Gebiet der Narratologie zeigen. Aber während der Aufbruch zu einer umherschweifenden Suche entscheidend für die Formung des Ichs sein kann, so kann dieser Aufbruch ebenso entscheidend für die Ausbildung eines kohärenten Weltbilds sein. Einer dieser Umwege führt über die lange Tradition der Vorstellung von einer Universalität, die außerhalb der europäischen Aufklärung entwickelt wurde. Das bedeutet, die Welt als ein ungeteiltes Ganzes anzusehen und Modelle von Gemeinschaft und einer allgemeinen Humanität zu entfalten, die nicht durch ihre genealogische Verwurzelung im europäischen Universalismus mit seinen kolonialen und rassistischen Voraussetzungen und Konsequenzen kompromittiert sind. Auf diesem Umweg wird vielmehr erkennbar, wie solche Vorstellungen aus den Betrachtungsweisen von Menschen hervorgegangen sind, die ihre Herkunftswelten verlassen haben. Es wäre schwierig, eines der in dieser Hinsicht zentralen historischen Ereignisse bei einer solchen Erörterung nicht zu berücksichtigen. Ein Ereignis, das weitgehend unbeachtet blieb, bis ihm die Arbeit des Historikers José Lingna Nafafé seine rechtmäßige Anerkennung eintrug.[1]
Am 6. März 1684 brachte Lourenço da Silva Mendonça, ein Prinz des Königshauses von Ndongo (heute Angola) im Vatikan einen Fall gegen die Versklavung vor. Reisender und Universalist, der er war, ist die Geschichte seines Lebens bis zu diesem außergewöhnlichen Augenblick allein schon bemerkenswert. Nach der portugiesischen Niederschlagung einer Rebellion seiner Familie gegen die Besteuerung versklavter Menschen in ihrem Königtum schickte man ihn ins Exil nach Brasilien, wo er auf den antikolonialen Widerstand der Schwarzen und Indigenen Bevölkerung traf. Aus Angst vor dem wachsenden Aktivismus in Brasilien verbannten ihn die Portugiesen erneut, diesmal nach Lissabon, wo er Kontakt zu den Communitys der Amerindians, der Afrikaner*innen und der Conversos (jüdische Konvertit*innen, die sich katholisch taufen ließen) aufnahm, während er sich mit seinen Studien befasste. Diese einzigartigen Erfahrungen veranlassten ihn zu seiner Klage gegen den Vatikan in dessen eigenen Gerichtssälen. Es war ein siegreiches Verfahren, auch wenn es, abgesehen von der Verdammung der Versklavung durch Papst Innozenz XI., zwei Jahre danach, keine unmittelbaren Konsequenzen hatte. Die wirklich historisch zu nennende Dimension seines Falls liegt aber in den Argumenten, die Mendonça bei seinem Plädoyer vorbrachte. Seiner Argumentation lag eine Vorstellung von Rechten zugrunde, die allen Menschen zuteilwerden sollten, „Juden, Heiden oder Christen in jeder Region der Welt“ – ein Jahrhundert vor der abolitionistischen Bewegung der Weißen, und den politischen Umbrüchen des späten 18. Jahrhunderts vorausgehend. Welchen Weg sollte man angesichts dieser Tatsache einschlagen, um Ideen infrage zu stellen, die zuvor der europäischen Aufklärung zugerechnet wurden (darunter die berechtigterweise kritisierte Idee der ‚Menschenrechte‘, die gedeckt von einem US-amerikanischen Konsens häufig auf kriminelle Weise instrumentalisiert wurde) – wenn man doch weiß, dass diese Ideen zuerst von einem Prinzen aus Ndongo im Jahre 1684 geäußert wurden, als er für die gesamte Menschheit sprach?
Zu den Ausgangspunkten der Ausstellung gehören etliche historische Referenzen. Diese weisen unter anderem auf kunstgeschichtliche Traditionen hin, die sich vom europäischen, geografisch abgegrenzten Weltverständnis durch ihre besondere Form eines abgewandelten Universalismus unterscheiden. Sie sind durch eine Reihe historischer Beispiele universeller Perspektiven außerhalb der europäischen Traditionslinien geprägt – durch die Metropolen der Welt, durch Imperien und die unermesslichen Landschaften, die mit ihnen verwoben sind – und durch die Künstler*innen, die Welten geschaffen oder zum Vorschein gebracht haben, und in ihrer künstlerischen Praxis eine größere Welt thematisieren. Geografisch unvollständig und selbst den Gefahren und der Gewalt eigener imperialer Bestrebungen unterworfen, deuten diese Beispiele auf verschiedene Weisen hin, in denen unterschiedliche Bevölkerungen, Bräuche, Waren, Religionen und Kosmologien an einem Ort unter dem Dach einer kohärenten Weltvorstellung zusammenkamen. Diese historischen Referenzen verkomplizieren sowohl das Idealbild eines einzigen Universalismus, verstanden als europäisches Projekt, als auch die Vision einer Welt, die in verschiedene, miteinander unvereinbare Kosmologien aufgeteilt ist. Dieses Manöver der Rückschau will weder einen dieser historischen Momente idealisieren, noch will es sie als Modelle für eine Zukunft in Anschlag bringen, die eine vollkommen andere Welt wäre, eine Welt, in der alles permanent neu erfunden und verhandelt werden muss. Gleichwohl erinnern sie uns daran, dass die Welt an verschiedenen Orten der Erde und zu unterschiedlichen Zeiten, die nicht gänzlich durch Expansion und Unterwerfung verdorben wurden, als gemein sames Erbe, als die gemeinsame Heimat der gesamten Menschheit betrachtet wurde; ganz anders als es beim europäischen Universalismus der Fall war. Zu solchen Beispielen eines gelebten Kosmopolitismus zählen neben Mendonças trikontinentaler Erfahrung das Mogulreich in seiner Blütezeit, mit seinem kaiserlichen Streben nach enzyklopädischem Wissen und dessen schöngeistiger, weltgewandter Vermehrung sowie mit seiner multikonfessionellen Staatsführung. Dann die ausgedehnte und komplexe Welt der Häfen und des Handels rund um den Indischen Ozean in den Jahrhunderten vor den Machtverschiebungen durch die Europäer entlang seiner Küsten. Ebenso die langen Verkehrs- und Handelsrouten, auf denen Waren, Glaubensrichtungen und Wissen in West- und Nordafrika über Land transportiert wurden. Oder auch die erste Herausbildung eines globalen Wirtschaftssystems in den multikonfessionellen Steppen Nord- und Zentralasiens, organisiert von den verschiedenen mongolischen, turkischen und persischen Herrschaftsformationen.
Vor der Kulisse der globalen Geschichte beschäftigt sich Musafiri: Von Reisenden und Gästen mit regionalen Erzählungen. Viele der Arbeiten konzentrieren sich auf Individuen, die sich auf Weltreisen begeben oder Projekte realisiert haben, in denen sie enzyklopädisches Wissen aus unterschiedlichsten kulturellen Kontexten und Perspektiven versammeln. Auf globaler wie regionaler Ebene ist die Ausstellung geprägt vom Geist Mendonças als einem Reisenden und Baumeister des Universalismus. Sie betrachtet Zeiten und Individuen, die vor den modernen kolonialen Epochen existierten oder außerhalb dieses Rahmens standen, so sehr sie auch durch eurozentrische Geschichtsschreibung, den liberalen Mythos des heroischen Individuums und das Ethos des Reisenden als einem Weltenverzehrer überschattet worden sind. Durch die Betrachtung der zuvor erwähnten prämodernen Universalismen stellt sich die Ausstellung der Herausforderung, ein Instrumentarium zu entwickeln, das der großen Mehrheit der anonym gebliebenen Reisenden, die durch ihre Mühe und Arbeit die Welt des globalen Kapitals aufgebaut und am Laufen gehalten haben, historische Gerechtigkeit zukommen lässt. Diese Reisenden sind die Versklavten der Middle Passage und die Zwangsarbeiter*innen aus Indien, China, Indonesien, die sowohl in die Amerikas gegangen sind als auch in die Gebiete des Indischen und des Pazifischen Ozeans. Diese Reisenden sind die Migrant*innen der heutigen Zeit; nicht nur diejenigen, die noch immer in Richtung der imperialen Zentren wandern, sondern auch diejenigen, die auf neue Pfade gelangten, die durch veränderte Wirtschaftsgeografien entstanden sind; von Südasien in Richtung der Golfregion, von Südostasien nach Ostasien, aus den Ländern des afrikanischen Kontinents (und Südeuropas) nach Südafrika, von den Anden nach Brasilien und von Venezuela in Richtung der gesamten lateinamerikanischen Hemisphäre.
Daher geht Musafiri: Von Reisenden und Gästen über die auf imperialer Politik basierenden oder als direkte Konsequenz aus ihr hervorgehenden Visionen der Welterzeugung hinaus. Die Ausstellung widmet sich vielmehr den individuellen Visionen von Reisenden – bekannten, weniger bekannten oder vollkommen vergessenen –, die ihre angestammte Umgebung verließen und so mit den Metropolen der Welt und den dort geltenden und gelebten universellen Geschichtlichkeiten in Verbindung traten. Diese musafiri – Reisende, die als Gäste sich selbst veränderten, die an ihren Ankunftsorten Fuß gefasst haben – imaginierten und erneuerten auf ihre eigene Art und Weise Lebenswelten und dokumentierten dabei eine Welt, die jenseits der Grenzen ihrer eigenen lag, die vielleicht sogar die Erfahrungen ihrer Reisen überstieg.
Ibn Battuta, der Autor aus dem 14. Jahrhundert und Verfasser des Werks ar-Rihla [Die Reise] oder – in deutscher Übersetzung – Geschenk für diejenigen, welche die Wunder von Städten und den Zauber des Reisens betrachten, ist einer der glorreichsten Reisenden und Chronisten. Er reiste von seiner Heimatstadt Tanger bis nach China. Dabei folgte er den bereits durch den florierenden Handel bekannten maritimen Routen, die die arabische Welt, Ostafrika, den indischen Subkontinent, die malaiischen Inseln und China verbanden. Ebenfalls auf diesen Routen unterwegs war Sa’id aus Mogadischu, ein Gelehrter, der zwischen Chinesisch und Somalisch übersetzte. Er versorgte Ibn Battuta mit wichtigen Informationen über China, als sie sich an der Küste Indiens trafen. Bedeutend früher begegnen wir dort Zhang Qian (Han Dynastie, 2. Jahrhundert v. d. Z.), möglicherweise der erste Reisende in Zentralasien, der Wissen über die Relikte der hellenistischen Welt und deren weiter westlich liegende Ursprungsgebiete nach China brachte. Ein weiterer, weniger bekannter Reisender ist Buddhaguptanatha, ein tamilischer Yogi aus Rameswaram, der im 16. Jahrhundert lebte und einer buddhistischen Gemeinschaft angehörte, von der man glaubte, sie habe zu dieser Zeit in Südindien schon lange nicht mehr existiert. Er bereiste die asiatischen und ostafrikanischen Küstengebiete.
Zahlreiche unbekannte Reisen fanden über viele Jahrhunderte hinweg (mindestens vom 16. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts) auf der Route statt, die die Hafenstadt Makassar im heutigen Indonesien mit vielen Indigenen Communitys entlang der nördlichen Küsten des Kontinents verband, der heute als Australien bezeichnet wird. Durch den Handel mit Seegurken, die weiter nach China verfrachtet wurden, blieben aus dieser Verbindung auf beiden Seiten viele langlebige kulturelle und wirtschaftliche Spuren erhalten, darunter visuelle, mündlich überlieferte und choreografische Reiseberichte.
Es sind nicht nur die Verfasser*innen dieser Berichte gereist, sondern auch ihre kostbaren Manuskripte. Das imposanteste dieser Dokumente muss das Jāmiʿal-Tawārīkh gewesen sein, eine universelle Abhandlung der Geschichte und des Weltwissens, die im frühen 14. Jahrhundert in Täbris von Rashid al-Din verfasst wurde. Bolad, ein Mongole, der am Hof der Yuan-Dynastie diente, wurde zu einem wichtigen Zuträger von Rashid al-Din. Er half bei der Übersetzung von medizinischen oder kosmologischen Dokumenten aus dem Chinesischen ins Persische und Arabische. Einige seiner Arbeiten erreichten früh den Hofstaat des Osmanischen Reichs. Von dort stammte ein weiterer, außergewöhnlicher Protagonist, Evliya Çelebi, der im 17. Jahrhundert auf dem Gebiet des Osmanischen Reichs und über dessen Grenzen hinaus reiste und dies in seinem Reisebericht Seyahâtnâme dokumentierte. Aus heutiger Sicht bietet sein Buch ein erfrischendes Umdenken in Bezug auf Europa, wo sich das imperiale Zeitalter gerade erst zu entwickeln begann. In diesem freimütigen, aufschlussreichen und humorvollen Text lassen sich weitere Routen und Geschichten entdecken: eine linguistische Betrachtung der Verbindung zwischen der deutschen und der persischen Sprache, lange vor der Einführung der indo-europäischen Sprachfamilie in der Linguistik; ein praktizierender Sufi, der auf einem Nashorn den Nil entlang reitet; Miguel de Cervantes, dieser „einarmige, spanische Sklave“; eine Gruppe von Native Americans, die Çelebi in Rotterdam trifft und die die europäischen Priester mit den Worten verflucht hatten: „Unsere Welt war friedlich, aber habgierige Menschen haben sie betreten, Männer aus dieser Welt [der Alten Welt], die permanent Kriege führen und uns das Leben nehmen”; dazu werden Leben, Kultur und Land eines florierenden und dicht besiedelten Palästina detailliert beschrieben.
Die Geschichte von Xuanzang, dem Tang-Mönch aus dem 7. Jahrhundert und dessen Reise nach Westen (zu den Ländern des Buddha im heutigen Indien und Nepal), ist in China und Ostasien Allgemeingut. Es existieren zahlreiche Adaptionen in den verschiedensten künstlerischen Genres, von der Oper bis zur TV-Serie, vom Kino bis zur Akrobatik-Show. Mit dem Affenkönig, der Tricksterfigur, die mit einem Salto 10.000 Meilen zurücklegen kann, wird in der phantastischen Nacherzählung von Xuanzangs historischer Reise durch Wu Chen’en, den Dichter der Ming-Dynastie, das Motiv der buddhistischen Pilgerfahrt und der Suche nach der Heiligen Schrift um einen sozio-politischen Sarkasmus erweitert – eine Tradition, die in zeitgenössischen Varianten, insbesondere im Hong-Kong-Kino (das selbst den Status globaler Verbreitung erlangt hat) fortgeführt wird.
Der letzte Punkt führt zu weiteren Formen von Reisen und Strömungen. Zum Beispiel die Filme und TV-Serien, die geholfen haben, chinesische Mythologie und religiöse Erzählungen in Richtung der diasporischen Zentren und darüber hinaus zu verbreiten und damit die Identität einer neuen Generation zu prägen. Viele musafiri-Communitys wurden durch die Verbreitung miteinander geteilter popkultureller Referenzen gestärkt und noch enger untereinander verbunden. Die Ausstellung weist, neben einer Reihe von historischen Verbindungslinien, auf einige dieser Referenzen hin: von der derzeitigen Welle des K-Pop, die Musikgeschmack, Identität, Schönheitsideale oder Vorstellungen von race in Asien und anderen Kontinenten verändert, bis hin zu einer früheren Manifestation globaler Verflechtungen, wie sie sich um das Lambada-Fieber der 1990er gebildet haben, das seiner seits kulturellen und akustischen Universen auf dem Fuße folgte, die auf beiden Seiten des Black Atlantic geboren wurden und die Idee der globalen Popkultur grundlegend neu gestaltet haben. Die Ausstellung ist außerdem an anderen Räumen interessiert, um die herum sich diasporische Communitys gebildet haben, an gemeinschaftlichen Räumen der Identifikation – wo sich Reisende wie Gäste fühlen, und sei es nur untereinander –, an den geografischen Räumen des Ankommens vieler musafiri. Häufig verwoben mit, aber doch getrennt von den Räumen für Tourist*innen (diese anderen Reisenden der modernen Ära) sind das die Märkte, die Nagelstudios, die Haarsalons und Cafés – Räume, in denen gegenseitige Unterstützung gedeiht und Communitys ihre eigenen Geschichten erzählen.
Kulturen und Ideen sind schon lange vor der Aus breitung der Popkultur weit gereist und haben die Routen, auf denen sie kursierten, transformiert. Auch wenn die frühen Aufbrüche dem Verlangen nach Waren und Gütern entsprangen, waren Erkenntnisse, Überzeugungen und ästhetische Formen ihre steten Begleiterinnen. Als ein Beispiel für diese Vorgänge können Textilien angesehen werden, die historische Ebenen, soziale Beziehungen und wirtschaftliche Strukturen miteinander verweben, wodurch ihrer Herstellung Wert verliehen und so die Nachfrage für ihre Produktion und Verbreitung befeuert wurde. Die plurikontinentale und häufig finstere Historie der Farben Indigo oder Karmin spiegeln diese Geschichte wie auch die ästhetischen, intellektuellen und spirituellen Systeme wider, die aus ihnen Objekte gemacht haben, deren Bedeutung man lesen und verstehen muss, die in Ehrfurcht oder mit Entzücken zu betrachten sind – all das, während sie die subjektiven und einzigartigen Stimmen ihrer Schöpfer*innen wiedergeben. Nur wenige andere Ausdrucksformen haben diese Systeme mit ihren Wanderungsbewegungen und in den Zirkulationsprozessen, in die sie als Tauschgut auf den Handelsrouten und in den Kontaktzonen eingebunden waren, in ähnlich intensiver Weise wie Textilwaren zur Kenntlichkeit gebracht.
Es dürfte jedoch schwerfallen, die von den Religionen in Gang gesetzten Bewegungen und Ausbreitungen zu übertreffen. Im Rahmen von Glaubenssystemen sind auch die meisten Ideen von Universalismus entwickelt worden. Entsprechend folgen viele der in der Ausstellung berücksichtigten Reisenden den Routen, die auf religiöser Verwandtschaft beruhen und bedienen sich religiöser Sinnsysteme, um die Welt zu begreifen. In diesem Prozess haben viele von ihnen diese Systeme weiterentwickelt oder sie sogar hinter sich gelassen, nachdem sie unterwegs mit den realen Komplexitäten der Welt konfrontiert worden sind. Die in der Ausstellung gezeigten Werke spüren einigen dieser Themen nach, sie verweisen zum Beispiel auf die Fahrten von umherziehenden Sufi-Heiligen. Aber Religion ist auch die treibende Kraft hinter einigen der bedeutsamsten und häufig übersehenen Systeme gegenwärtiger menschlicher Wanderbewegungen: die Pilgerfahrten, an denen oft Millionen von Menschen beteiligt sind, für die diese Reise zu den wichtigsten Momenten ihres Lebens zählt, wie etwa die Haddsch oder die Kumbh Mela.
Auch wenn viele dieser Reiserouten Gegenden beschreiben, die außerhalb derer des europäischen Kolonialismus liegen – Kartografien, die frei sind von den „Spielräumen“ der Forschungsexpeditionen und Eroberungen: Was lässt sich über die Reisen derjenigen sagen, die es nicht vermeiden konnten, in das Einflussgebiet des Kolonialismus zu geraten? Über diejenigen, die auf den Eroberungswellen angeschwemmt wurden, oder über die Reisen, die – auf unterschiedliche Art und Weise – gegen diese Eroberungswellen unternommen wurden? Zu diesen Reisen zählt die von Enrique von Malakka, dem versklavten Filipino, der Ferdinand Magellans Weltumsegelung praktisch erst möglich machte, und der tatsächlich der Erste war, der eine solche Reise unternommen hat. Eine andere ist die von Abba Gorgoryos, dem äthiopischen Gelehrten, der im 17. Jahrhundert nach Gotha reiste, um dort zu forschen, und der auf dem Weg zurück nach Äthiopien bei einem Schiffsunglück auf tragische Weise ums Leben kam. Zu nennen wäre auch der afroamerikanische Entdecker Matthew Henson, der ein Jahr nach dem Ende des Bürgerkriegs dieses Landes geboren wurde und wahrscheinlich als erster Mensch den Nordpol erreichte. Möglicherweise ist Henson eine von der allgemeinen Erzählung der Ausstellung abweichende Figur, war er doch in hohem Maß Teil des US-amerikanischen imperialen Expansionismus. Dennoch, seine Erfolge stellten sich erst ein, nachdem er die Sprache von Inuit Communitys gelernt und sich deren Überlebens- und Navigationsstrategien in der Arktis angeeignet hatte – Verbindungen, die er höchstwahrscheinlich unter anderen Bedingungen aufbaute als die weißen Forscher.
Da ist auch die Fahrt des letzten Königs von Hawaiʻi, Kalākaua, der sich 1881 auf Weltreise begab, um diploma tische Beziehungen zu Staaten und Communitys aufzubauen, die, wie sein eigenes Land, vom Eingreifen europäischer Kolonisatoren betroffen waren (und, weniger glorreich, um die Einfuhr von Vertragsarbeiter*innen für seine königlichen Plantagen zu befördern). König Kalākaua wurde dazu auch durch die Idee einer malaiischen race und deren politischer Zukunft angestachelt, oder, wie es der damalige Konsul der USA formulierte, er „brannte für die Idee, alle verwandten Völker der Pazifikinseln in einer großen polynesischen Konföderation zu vereinigen“.[2] Ein politisches Projekt, das auf einer völlig anderen Vorstellung der geografischen Landkarte des Pazifiks beruhte als der europäischen; eine geografische Landkarte, die jedoch gewaltsam neu vermessen werden sollte, was auch den Untergang seiner Nation herbeiführte. Man könnte sogar darüber spekulieren, ob sich die von José Rizal, dem philippinischen Romancier und Patrioten, erdachte Gemeinschaft der malaiischen Völker oder die frühen Vorstellungen revolutionärer Student*innen, Indonesien als eine neue, die unterschiedlichen Gruppen auf dem Archipel zusammenführende Gesellschaft zu konstituieren, nicht zum Teil König Kalākauas Verlangen nach einer pan-polynesischen Vereinigung verdanken.
Aber angesichts all dieser Reisen, selbst jener, die in den Blick geraten, wenn man sich von den Reisenden des europäischen Kolonialismus abwendet, bleibt die imaginierte Welt dennoch auf unvermeidliche Weise fragmentiert und notwendigerweise unvollständig. So sind die Möglichkeiten eines umfassenderen Bildes durch die strukturelle Abwesenheit weiblicher Perspektiven in weiten Bereichen der Geschichte auf fundamentale Weise limitiert. Und wie kann man die Erfahrungen derjenigen würdigen, die gewaltsam über die Middle Passage gebracht wurden, die zehn Millionen versklavten Menschen aller Geschlechter, die diese Überfahrt überlebten? Sie waren die ersten, die der modernen globalen Welt begegneten, die auf ihrer Entführung und Ausbeutung gründete, und ihre Erlebnisse prägen zwangsläufig die zeitgenössischen Erzählungen über die Welt. Und wie die Erfahrung der per Vertrag zu Zwangsarbeit verpflichteten Menschen würdigen, die nach der gesetzlichen Abschaffung der Versklavung vom 19. bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts den Mangel an Arbeitskräften ausglichen? Und wie die Erfahrung derjenigen, die dies heute noch tun?
Musafiri: Von Reisenden und Gästen schafft Aufmerksamkeit für die Narrative, die unsichtbar auf der ‚Unterseite‘ der Globalisierung verschwinden; nämlich die Geschichten der Wanderarbeiter*innen – der anonymen Arbeitskräfte auf den Baustellen von Infrastrukturprojekten, der Transportarbeiter*innen und Leiharbeiter*innen, oder der ‚systemrelevanten Kräfte‘ (um eine Formulierung aus jüngsten Pandemiezeiten zu verwenden) –, die entweder in weit entfernten Städten ihrer eigenen Länder leben (so wie die zig Millionen Binnenwanderarbeiter*innen, die den ländlichen Raum in Richtung der chinesischen Metropolen verlassen) oder auf den neu entstandenen regionalen Migrationsachsen beziehungsweise entlang der etablierten historischen imperialen Routen unterwegs sind. Die Werke der Ausstellung geben zugleich den Erzählungen derjenigen Menschen eine Stimme, die den Fluss dieser Wanderbewegungen gewährleisten, wie etwa die philippinischen Arbeitsmigrant*innen, die unter den Besatzungen der Schiffe auf den Weltmeeren die größte Gruppe stellen – und in deren Lebenserfahrungen vielleicht die wegbereitende Reise Enrique von Malakkas nachklingt. Schließlich zeichnet die Ausstellung die Reisen derer nach, die ihre Heimat durch brutale Zwangsrekrutierung oder aufgrund der Lebensumstände verlassen mussten, um an fernen Orten und unter fremder Flagge zu den Waffen zu greifen. Der Bandbreite dieser Erfahrungen ist enorm. Sie reicht von Ostafrikaner*innen vieler Generationen, die schließlich in Südasien ihre Heimat gefunden haben, bis zu den Millionen von Menschen, die für die Kolonialstaaten in den Weltkriegen gekämpft haben, von den Gurkhas, die das Britische Empire eingesetzt hat, bis hin zu den Nepales*innen, die derzeit von Russland verpflichtet werden, um in der Ukraine zu kämpfen.
Auf diese Weise wird eine weitere globale Landkarte gezeichnet, eine der kapitalistischen Arbeitsverteilung, mit ihrer Ausbeutung „rassifizierter“ Körper und ihrem Netzwerk von Infrastrukturen, das die Bewegungen von Wanderarbeiter*innen antreibt und sie der globalen, kapitalistischen Produktions- und Handelsmaschinerie einverleibt. Dieser kartografische Entwurf setzt sich aus der Vorstellungskraft derer zusammen, die den Steuermechanismen dieser Arbeitsflüsse unterworfen sind – gefangen zwischen endlosen Schichtdiensten, chronischer Arbeitslosigkeit oder dem häufig permanenten Zustand dazwischen. Aber diese Landkarte marginalisiert auch Individuen und Gruppen, deren Reisemöglichkeiten durch zahlreiche Arten von Grenzen massiv eingeschränkt werden, ebenso wie die gesamte Welt, nach der diejenigen streben, die ihre Dörfer nie verlassen haben, deren Hände und Träume jedoch den globalen Handel am Laufen halten. Was für eine Welt zeigt sich also, wenn man sie von einer Vielzahl unbeweglicher Perspektiven aus betrachtet, wenn man sie aus der Vorstellungskraft derer sieht, die an einem Ort verweilen, während sie die Welt entwerfen und erfinden? (Wobei hier erneut auf eine Sufi-Tradition zurückgegriffen wird, die nicht so sehr der des umherziehenden Heiligen entspringt, sondern inneren mystischen Bewusstseinserfahrungen; wie auch auf Traditionen ostasiatischer Eremiten und andere Praktiken der isolierten, introvertierten, gelehrten Weltgestaltung.) Was für eine Welt zeigt sich, die auf trügerische Weise vollständig lesbar und scheinbar allen zugänglich auf den Computerbildschirmen aufflackert? Da die Globalisierung wohl eher eine in sich begrenzte Epoche und kein permanenter Zustand ist, und da geopolitische Spannungen, Anti-Immigrationspolitik und stärker bewehrte Grenzen verschiedene Formen menschlicher Mobilität bedrohen, wird die Welt auch weiterhin von denen ersonnen und erträumt, die reisen, indem sie sich nicht vom Fleck bewegen und die Welt durch verschiedene digitale Schichten hindurch wahrnehmen. Eine weitere Frage leitet über zur Kartografie und zur Frage, welche Machtverhältnisse sich zeigen, wenn man sie neben grundlegend anderen Formen der Kartierung darstellt. Von der positivistischen Karte auf einem einzigen karierten Blatt mit ihren zu kontrollierenden Landmassen und den anzusteuernden Seerouten, die jederzeit zur Hand sind, bis zu den himmlischen Navigationskarten mit ihren Wellen, Sternen, Vogelzugrouten und einer komplexen Mathematik, die gelernt, erinnert und verinnerlicht werden müssen, sodass die Welt und ihr Wissen sich nur demjenigen offenbaren, der auf realen Pfaden reist oder auf solchen, die gänzlich der Fantasie entspringen. Diese Fragen führen schließlich zu der einen, die vielleicht die wichtigste ist und viele der Suchbewegungen und Anstrengungen berührt. Nämlich, ob wir immer noch die Hoffnung hegen können, dass die musafiri eines Tages irgendwo auf eine Welt treffen, in der die Macht der Gastgeber*innen, zu bestimmen, wer für immer ein musafir bleiben muss, zerschlagen worden ist und nur noch der Chronik einer vergangenen Zeit angehört.
Cosmin Costinaș
[1] José Lingna Nafafé, Lourenço da Silva Mendonça and the Black Atlantic Abolitionist Movement in the Seventeenth Century, Cambridge: Cambridge University Press, 2022.
[2] Zitiert in Jason Horn, Primacy of the Pacific Under the Hawaiian Kingdom, MA thesis, University of Hawaii, 1951, S. 59.