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Fertile Void

Quantenparadoxien und die Physik lebender Materie

Vorträge, Performances, Gespräche, Ausstellung

1.–10.11.2024

Visual Fertile Void

Ich dachte, Physik sei bloß Physik, unabhängig von den Menschen. Ich dachte, wir könnten über Partikel sprechen, ohne im selben Zug über Menschen reden zu müssen. Ich hatte Unrecht.

– Chanda Prescod-Weinstein, 2021[1]

Die Quantenwissenschaft befasst sich mit den Phänomenen der kleinsten Teilchen, die aktuell von der wissenschaftlichen Theorie erfassbar sind. Man stelle sich eine Ameise vor – als Repräsentation eines Objekts von mikroskopischen Dimensionen – und im Vergleich dazu einen sechs Tonnen schweren Elefanten, ein makroskopisches Objekt. Die Ameise ist aus der Sicht des Elefanten kaum wahrnehmbar, er bleibt von ihren Bewegungen weitgehend unbeeinflusst, selbst wenn von ihr starke kontinuierliche Vibrationen ausgehen. Analog dazu sind auch Quantenteilchen nicht eindeutig erfassbar. Der Heisenbergschen Unschärferelation zufolge kann sich ein Teilchen durch den Akt der Beobachtung von einem Moment zum anderen völlig anders verhalten. Das bedeutet, dass seine Eigenschaften nicht über den Moment der Messung hinaus bestimmt werden können. Die Wahrnehmung dieser Teilchen ist vergleichbar mit der erkenntnistheoretischen Frage nach dem Fall eines Baums im Wald: Wenn niemand da ist und den Sturz hört, macht er dann überhaupt ein Geräusch?

Neben vielen anderen Dingen verspricht die Quantenphysik auch Erkenntnisse über die Entstehung des irdischen Lebens vor etwa 3,5 Milliarden Jahren. Theoretische Physiker*innen der westlichen Moderne beschäftigen sich seit fast einem Jahrhundert mit Fragen nach den Ursprüngen des Lebens, des Universums und der Zeit sowie nach ihren wechselseitigen Beziehungen zueinander. Eine Reihe von Experimenten auf diesem Gebiet stellt Erkenntnisse der Newtonschen Physik infrage, die sich nicht mit Objekten unterhalb der makroskopischen Ebene befasst. Bis heute bleiben diese Widersprüche unaufgelöst.

Ein Jahrhundert nach den ersten Quantenexperimenten nähert sich Fertile Void der Quantentechnologie als einem dynamischen wissenschaftlichen, politischen, ästhetischen und kosmologischen Forschungsfeld. Ziel ist es, die Richtwirkung, die technologische Materialität, die Bedingungen der Verkörperung und die kulturellen Erfahrungen dieses Feldes zu hinterfragen. Der Titel Fertile Void bezieht sich auf das Vakuum: Einst als leerer Raum gedacht, hat die Quantenmechanik ein Verständnis davon ermöglicht, wie aus einer scheinbaren Leere dennoch Materie entstehen kann. In dieser Poetik findet die Idee, dass das Nichts und das Etwas ursprünglich miteinander verwoben sind, ihren Nachhall in der Realität von Kosmologien aus verschiedenen Zeiten und Räumen, die seit jeher versuchen, die Bedeutung und Entstehung von Materie zu verstehen, ob auf der subatomaren Ebene, auf der Ebene des Geistes oder auch im Dienste des Göttlichen. Fertile Void zeichnet theoretische und angewandte Formen der Wissenschaft nach, um dadurch Fragen nach Ritualen, Verehrung und nach der kosmologischen Selbstfindung zu verstehen. Umso mehr drängt sich damit auch die Frage auf, was in den Übersetzungsleistungen zwischen Theorie und Praxis verloren geht oder was gewonnen werden kann. Ob der makroskopische Elefant seine mikroskopischen Bestandteile wahrnimmt, ob er mit ihnen interagiert und wie er von der Materie, aus der er besteht, beeinflusst wird – das bleiben vorerst offene Fragen. Doch je mehr sich die Quantenwissenschaft in technologischen Anwendungen konkretisiert, umso dringlicher werden diese Fragen.

Weltweit gibt es derzeit nur eine geringe Anzahl von Quantencomputern mit rudimentären Prozessoren und begrenzten Funktionen, die auf den theoretischen und philosophischen Annahmen der Quantenwissenschaft aufbauen und versuchen, diese in hypermoderne Technologien umzusetzen. Da die Architekturen und die Leistungen dieser Prozessoren sich stark voneinander unterscheiden, tun das unter Umständen auch die jeweils von ihnen ermittelten Ergebnisse. Die meisten Quantenprozessoren befinden sich außerdem in Zentren technologischer Macht, in Institutionen, die den jeweiligen Staaten und der Wirtschaft verpflichtet sind.

Obwohl ihre Funktionen und Auswirkungen im Detail noch unklar sind, werden Quantenprozessoren schon jetzt zum Gegenstand von Erwartungen, Hypes, Hoffnung und Spekulation. Sie integrieren ein komplexes und umstrittenes Feld wissenschaftlicher Forschung in die Welt der Maschinen und Märkte sowie früher oder später auch in das menschliche Leben. Das ist Grund genug, die Kosmologien und Politiken zu untersuchen, die in der Quantenwissenschaft und -technologie eine Rolle spielen. Wessen Wissen wird in die Maschine übersetzt, und inwiefern stellt die Maschine selbst eine Übersetzung dieses Wissens in etwas anderes dar? Welchen Realitäten wird welcher Wert beigemessen, wenn tatsächlich alles aus dem gleichen Sternenstaub besteht? Sind diese Realitäten überhaupt von Bedeutung für die Menschen, wenn sich ein großer Teil davon auf subatomarer Ebene abspielt?

Die zahlreichen kosmologischen Traditionen, die sich um ein Verständnis der Entstehung lebender Materie aus dem scheinbaren Nichts bemühen, reichen weit vor die von Niels Bohr und Werner Heisenberg in den 1920er Jahren in Europa durchgeführten Experimente zurück. Tatsächlich finden sich in einer Vielzahl von Kontexten quer durch Raum und Zeit verschiedene Aspekte der Quantenwissenschaft wie ein zirkuläres Zeitverständnis, Multiplizität in Form von Superposition oder die Idee von Quantenverschränkungen. Solche Konzepte haben Entsprechungen etwa in der Inka-Kosmologie des 7. Jahrhunderts, der jüdischen Mystik des 16. Jahrhunderts, den Ifá-Wahrsagesystemen Westafrikas oder in der Metaphysik der Blackfoot in den heutigen USA. Selbst in ihrer konservativsten und am stärksten institutionalisierten Form stellt die Quantenphysik die Grundlagen der Erfahrung von Raum und Zeit infrage. Dabei werden Paradoxien, Verbindungen und Überlagerungen zu Ideen, die in die Realität des Lebendigen hineinspielen und damit auch eine politische Dimension erfahren. Die Quantenwissenschaft stellt somit Konzepte wie Individualismus und Grenzziehungen zur Diskussion und bietet ein Bezugssystem, mit dem sich politische Ontologien der Identität und Zugehörigkeit neu konfigurieren lassen und das vermeintliche Eindeutigkeiten überwindet, die von hegemonialen Bezugssystemen aufrechterhalten werden.

Fertile Void untersucht die Verheißungen und Erzählungen von Quantentechnologien durch die Linse kulturell situierter, mehr-als-menschlicher und gegenhegemonialer Epistemologien und Künste. Das Projekt betrachtet die fundamentale Beziehung zwischen Materie und Energie (beziehungsweise „Lebenskraft“) – ein Thema, das über Zeit und Raum hinweg in zahlreichen Kosmologien eine zentrale Rolle spielt und dem Verständnis der Quantenmechanik von der Beschaffenheit der Welt inhärent ist. Es versucht, das Verständnis der in Entwicklung befindlichen Technologien und der mit ihnen verbundenen philosophischen Konzepte zu erweitern. Die den Quantentechnologien zugrunde liegende Theorie – die Quantenphysik oder Quantenfeldtheorie – bietet ein reichhaltiges Universum von Konzepten, in denen Paradoxien der Translokalität, Überlagerung, Multiplizität und Verschränkung im Vordergrund stehen – Paradigmen, die dazu einladen, kollektivere Formen des Zusammenlebens auf der Erde zu konzipieren und zu praktizieren. Fertile Void stellt die von der Quantenphysik vorgeschlagenen Vorstellungen von Gemeinschaftlichkeit auf den Prüfstand und erkundet, wie sich verschiedene Epistemologien analysieren lassen und wie ihre Fragestellungen durch Quantentechnologien aktualisiert werden.

[1] Chanda Prescod-Weinstein, The Disordered Cosmos. A Journey into Dark Matter, Spacetime, and Dreams Deferred, New York: Bold Type Books, 2021, S. 6.