Deutschland ist kein fertiges Konstrukt. Deutschland ist immer im Werden. Und dieses Werden braucht eine Begleitung, die sensibel ist und den Anspruch hat, alle zu vertreten, die Deutschland tagtäglich gestalten. Sie bauen die Straßen, pflegen die Großmütter, machen die Kindergärten auf, gestalten Zivilgesellschaft, sind Politiker*innen, mal rechts mal links, liegen manchmal richtig und manchmal falsch. Gemeinsam machen sie das aus, was wir als deutsche Gesellschaft bezeichnen.

In den vergangenen Jahrzehnten ist diese Vielheit gewachsen und zu sich selbst gekommen. Das äußert sich in Initiativen und Vereinen, politischen Programmen und kulturellen Praxen im gesamten deutschsprachigen Raum, die diese neuen Realitäten abbilden und weiterdenken. Vielleicht ist die Frage nach der Zukunft gar keine utopische, sondern eine, die sich durch besseres Zuhören bereits heute beantworten lässt. Die Zukunft ist nämlich vielfach schon da, sie muss aber auch erzählt werden.

Das gilt paradoxerweise auch für eine öffentliche Erinnerungsarbeit, denn auch die Geschichten, die diese Gesellschaft von sich erzählt, bestimmen, wie die Gegenwart und Zukunft aussehen, die sie gestalten. Wenn wir also eine bessere Zukunft haben wollen, in der Menschen ohne Angst verschieden sein können, müssen wir auch die Vergangenheit anders erzählen. Dafür braucht es die richtigen Fragen: 

Wenn der Reichtum und die Ausbeutung der Kolonien den Aufstieg Preußens ermöglicht haben, gehört Preußen dann nicht auch ein wenig den Kolonien? Gehört der Reichtum Deutschlands nicht auch den sogenannten ‚Gastarbeiter*innen‘ und ‚Vertragsarbeiter*innen‘, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wieder mit aufgebaut haben? Gehört die deutsche Kultur nicht auch den Juden*Jüdinnen, wenn sie diese Kultur maßgeblich mitgestaltet haben? 

Um die These eines gemeinsamen Besitzanspruchs zu untermauern, braucht es einen anderen Blick auf die Geschichte beider Deutschlande seit 1945. Denn diese Geschichte ist bislang vor allem als deutsch-deutsche Generationengeschichte erzählt worden: Die Nazis, die nicht aufarbeiten wollten, die Kinder der Nazis (die sogenannten 68er), die ihre Eltern konfrontierten und einen Paradigmenwechsel im deutschen Selbstverständnis anstießen, und die Kinder der Kinder, die wieder stolz sein können auf Deutschland. Was in dieser Erzählung völlig fehlt, sind die Beiträge derjenigen, die unter den Kontinuitäten rechter Gewalt auch nach 1945 am stärksten zu leiden hatten: Juden*Jüdinnen, Arbeitsmigrant*innen, Schwarze Deutsche, Sinti*zze und Rom*nja. 

Eine plural-demokratische Erzählung im Sinne des Grundgesetzes unterstreicht, dass die deutsche Gegenwart maßgeblich auch von diesen marginalisierten und bedrohten Gruppen gestaltet wurde. Durch die Jahrzehnte hindurch waren es auch sie, die das entwickelten, was schließlich zur wehrhaften deutschen Erinnerungskultur wurde, mit der sich diese Gesellschaft heute zurecht schmückt: Rückübertragung und Zentralrat, Frankfurter Schule, Antifa Gençlik und Hip-Hop, postmigrantische und Afrodeutsche Bewegung, Dekoloniale, Hungerstreik in Dachau 1980, Roma Biennale in Berlin.