Middle Ground: Hargeysa International Book Fair
Literaturen vom Horn von Afrika und vom Indischen Ozean
Lyrik, Performances, Vorlesungen, Diskussionen, Workshops, Keynotes, Installationen, Open Mic, DJ-Set
27.–29.9.2024
Die Reihe Middle Ground widmet sich Literaturfestivals aus der ganzen Welt, um die globale Vielfalt schriftlicher wie mündlicher Literaturpraktiken und -netzwerke zu erkunden. Jedes Jahr wird ein anderes Festival ins HKW eingeladen. Für die zweite Ausgabe freut sich das HKW, mit der Hargeysa International Book Fair aus Somaliland zusammenzuarbeiten.
Standen bei der letztjährigen Ausgabe Middle Ground: PREE Reflexionen, Neuimaginationen und Erkundungen karibischer Literaturen im Fokus, so richtet das diesjährige Programm seinen Blick auf die Literaturen vom Horn von Afrika und vom Indischen Ozean. Der Indische Ozean befindet sich in historischer und relationaler Hinsicht an einem komplexen Schnittpunkt, von dem ein Netz dynamischer und strukturierter Beziehungen ausgeht. Der Historiker Kirti Narayan Chaudhuri schreibt: „Die Einheit der von uns als Indischer Ozean bezeichneten Regionen und die ihres wirtschaftlichen und sozialen Lebens ergibt sich nicht aus der objektiven Einheit eines räumlichen Konstrukts, sondern vielmehr aus einer Dynamik von strukturellen Beziehungen.“[1] Als Raum von herausragender Bedeutung stellt der Indische Ozean demzufolge eine komplexe Geografie dar, die maßgeblich die historische Entwicklung von Handel, Migration, Kolonialismus und Unterdrückung geprägt hat.
Zusätzlich zu seiner komplizierten Geschichte als Ort der Gewalt und Unterwerfung ist diese Wasserlandschaft auch ein Speicher von Erinnerungen, in dem die Bewegungen von Bevölkerungsgruppen, Ideen und Kulturen das Mosaik eines gemeinsamen Erbes und vielfältiger literarischer Traditionen geschaffen hat. Dieses Zusammenspiel steht dieses Jahr im Zentrum von Middle Ground. Durch diese gemeinsame Überlieferung bildet der Indische Ozean einen Knotenpunkt des kulturellen Austauschs, was in allen auf dem und um den Ozean herum gesprochenen Sprachen zum Ausdruck kommt. Ein Beispiel dafür ist Kiswahili. Mit einer reichhaltigen Sammlung assimilierter Wörter veranschaulicht Kiswahili, wie Sprachen neue Elemente in sich aufnehmen und integrieren können. Wörter wie das arabische salaam (Frieden), das persische bangi (Hanf) und das aus den Bantusprachen stammende maji (Wasser) haben unter anderem in Kiswahili Einzug gehalten. Jedes dieser Lehnwörter verkörpert eine Geschichte der kulturellen Vermischung und Anpassung. Diese sprachlichen Elemente haben sich zu einer Sprache zusammengefügt, die die Verflechtung der Kulturen im Raum um den Indischen Ozean widerspiegelt. Die Einflüsse lassen sich ebenso in den Esskulturen am Horn von Afrika nachverfolgen: Indische Gewürzmischungen, arabisch beeinflusste Gerichte wie Muufo oder Sambusa und afrikanische Grundnahrungsmittel kommen darin miteinander in Kontakt. Auch in musikalischer Hinsicht zeichnet sich die Region durch eine einzigartige Verflechtung von Klängen aus, die unter anderem mit der arabischen Ud, der indischen Tabla und afrikanischen Trommeln wie Djembe und Bougarabou erzeugt werden.
Die Zirkulation von Literatur bietet einen weiteren Zugang zum Indischen Ozean. Sie erhellt Vorstellungen wie die der Freiheit oder die Auffassung von Erinnerung als einem Ort des Zusammentreffens von Mythologie und Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart. In literarischen Kontexten steht das Bild des weiten, unberechenbaren und unerbittlichen Meeres für eine unbarmherzige Entität. Bis heute beschwört es eindringliche Unterwasserklanglandschaften herauf, und bildete im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert den Schauplatz für die Abenteuer und das gefährliche Leben von Perlentaucher*innen. Noch heute hallen die Echos ihrer Kämpfe und Triumphe durch die Tiefen des Ozeans und erinnern an ihre gefährlichen Unterfangen. Gleichzeitig hält sich hartnäckig der Ruf der Region als Operationsgebiet und Rückzugsraum der Piraterie und wirft einen Schatten über ihre Gewässer. Dieses doppelte Vermächtnis ist bis heute prägend für die Geschichte der Region und wird ihre zukünftige Entwicklung beeinflussen.
Es ist unmöglich, den Indischen Ozean als Erinnerungsraum in den Blick zu nehmen, ohne auf die Poesie einzugehen, die sich seit Jahrhunderten von der Timorsee bis zur Küste Somalias in allen an und in seinen Gewässern befindlichen Ländern entfaltet hat. Insbesondere die somalischen Regionen bilden einen Umschlagplatz für materielle und immaterielle, poetische und philosophische, menschliche und nicht-menschliche Geschichten, deren Spuren sich in vielen Oralturen finden lassen. Wie der 2022 verstorbene Dichter Mohamed Hadraawi einst sagte: „Ohne Lyrik würden wir als Gesellschaft nicht existieren.“[2] Poesie und Philosophie sind die Eckpfeiler des täglichen Lebens, sie bilden die Grundlage und Richtschnur einer Gesellschaft, die davon ausgehend ihre eigenen Werte formt.
Es lässt sich außerdem nicht über den Indischen Ozean nachdenken, ohne den Namen selbst zu hinterfragen. Oder den Einfluss der geopolitischen Faktoren auf diejenigen Länder, die die Region des Indischen Ozeans bilden. Im Laufe der Jahrhunderte war der Indische Ozean unter verschiedenen Namen bekannt: Erythräisches Meer, Östlicher Ozean, Afroasiatischer Ozean, Arabisches Meer, Indisches Meer, Bahariya Hindi und Swahili-Meer. Die Literaturen, die in den Geografien des Indischen Ozeans entstanden sind, stellen einen wichtigen Ausgangspunkt für Überlegungen zum kulturellen Austausch und zur sprachlichen Entwicklung dar. Wir sollten die reichhaltigen literarischen Traditionen der somalischen Regionen würdigen und zugleich ebenso den aktuellen Diskurs sowie den komplexen, diese Gebiete kennzeichnenden Pluralismus anerkennen. Betrachten wir die Literatur als Mittel zur Erforschung von Strategien der Koexistenz, so sind diese Überlegungen als Einladung zu verstehen, darüber nachzudenken, wie wir diese Welt am besten gemeinsam bewohnen können.
Am westlichen Rand des Indischen Ozeans liegt der Golf von Aden, ein Gewässer, das in der Literatur der Antike auch als Tor zum Paradies bezeichnet wurde – dort, wo der Phönix sein Nest hat; ein Ort, an dem das Mythische real wird. In der Nähe dieses sagenumwobenen Golfs, der sich entlang des Horns von Afrika erstreckt, zu dem Länder wie Dschibuti, Eritrea, Äthiopien, Somalia und Somaliland gehören, liegt die Stadt Hargeysa. Dieses urbane Zentrum ist der Geburtsort einer der bedeutendsten literarischen Initiativen der Region: der Hargeysa International Book Fair (HIBF).
Die HIBF wurde im Jahr 2008 von Jama Musse Jama gegründet und ist eine jährlich in Somaliland stattfindende Buchmesse. Sie nutzt ihre Lage am Horn von Afrika, um grenzüberschreitende Wissensproduktion und -verbreitung zu erforschen. Dazu wird jedes Jahr ein Gastland ausgewählt, mit dem gemeinsam Publikationspraktiken, Fragen der Erinnerung, verschiedene Künste, Archivierungspraktiken sowie andere Facetten der Literaturlandschaft untersucht werden. Die Messe ermöglicht Lyrik-Performances sowie die Unterstützung von Forschung, Dokumentation, Diskurs, Übersetzung und Veröffentlichung mündlicher Literaturen durch den Verlag des Hargeysa Cultural Centre.
Die Zusammenarbeit von Middle Ground mit der Hargeysa International Book Fair sowie der Standort der Buchmesse in Somaliland bieten ausführlich Gelegenheit, die sich ständig weiterentwickelnden literarischen Traditionen zwischen dem Horn von Afrika und dem Indischen Ozean zu erkunden. Zwischen dem 27. und 29. September 2024 präsentiert Middle Ground ein umfangreiches Programm von Workshops, Lyriklesungen, Performances, Gesprächen, Installationen und akustischen Interventionen.
Zum kuratorischen Statement (auf Englisch)
[1] Kirti Narayan Chaudhuri, Asia Before Europe: Economy and Civilisation of the Indian Ocean from the Rise of Islam to 1750, Cambridge: Cambridge University Press, 1990, S. 23.
[2] „Somalia’s most famous poet, Hadrawi, passes away in Hargeisa“, Hiraan Online, 18. August 2022, www.hiiraan.com/news4/2022/Aug/187470/somalia_s_most_famous_poet_hadrawi_passes_away_in_hargeisa.aspx