Ob sie als Geflüchtete nach Europa kommen oder der gewaltsamen Repression iranischer Grenzbeamter ausgesetzt sind, afghanische Migrant*innen werden in Forschung und Massenmedien häufig als ohnmächtige Opfer eines kollabierenden Staates und wenig durchdachter internationaler Interventionen charakterisiert. In solchen Darstellungen wird ihr Land paradoxerweise ebenso als „entlegene Pufferzone“ beschrieben wie als „Spielfeld der großen politischen Interessen“, auf dem die Manöver von Europa bestimmt werden, und nicht zuletzt als geopolitisch signifikanter „Friedhof der Imperien“.1

Tatsächlich aber haben nomadische Gruppen und einzelne Reisende die Gebiete, aus denen das heutige Afghanistan besteht, seit Jahrhunderten aktiv mit der übrigen Welt verbunden. Dieser Beitrag untersucht die Praxis mobiler Händler*innen der Region, ihre Beziehungen zueinander und ihre Betätigungsfelder. Die kommerziellen Aktivitäten dieser Händler, ihre Geschichte, ihre Communitys und die geografischen Bedingungen unterstreichen ihre anhaltende Relevanz, ihre Resilienz und Vitalität. Anstatt sich mit negativen Darstellungen aufzuhalten, wie sie allzu oft von Nationalstaaten und fernen Machtzentren gezeichnet werden, hebt dieser Essay die Leistungen, Fähigkeiten, das kulturelle Wissen und die Sprachkompetenzen dieser Menschen hervor.2

 

Zentralasien und der Pelzhandel

Ich möchte mit einem bekannten Produkt beginnen, für das Afghanistan und die angrenzenden Regionen Zentralasiens im neunzehnten- und zwanzigsten Jahrhundert bekannt waren: das Karakulfell. Karakulschafe (oder qaraqol) sind in den Steppen Zentralasiens beheimatet. Zahlreiche Pelzhändler*innen, aber auch Historiker*innen aus anderen Ländern und Wissenschaftler*innen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts sind davon ausgegangen, dass das Karakul eine der ersten vom Menschen domestizierten Schafarten war. Einige Forscher*innen haben die Geschichte dieser Züchtung bis zu den Anfängen der Zivilisation zurückverfolgt. Sie stützen ihre These auf das Argument, dass das von Abraham geopferte Tier aller Wahrscheinlichkeit nach ein Vorfahre des Karakul gewesen sei.3

Im neunzehnten Jahrhundert wurden Karakulschafe ausschließlich von nomadischen Hirt*innen in Zentralasien gehalten – besonders von jenen, die sich selbst als „turkmenisch“ bezeichneten. Die Lämmer wurden wenige Tage (wenn nicht gar Stunden) nach der Geburt geschlachtet und die direkt im Anschluss abgezogenen Felle waren weit über die Region hinaus für ihre lockige, glänzende Struktur berühmt. Die Händler*innen (viele von ihnen persisch sprechende Juden), die sie kauften, brachten die Ware in die geschichtsträchtige Stadt Buchara, ein über lange Zeit hinweg bestehendes Wirtschaftszentrum, das für die Seidenstraße und ihre Handelsnetzwerke von großer Bedeutung war.4 In Bucharas alten Karawansereien – Mischungen aus Gasthaus und Marktplatz entlang der Handelsstraßen – säuberten, bearbeiteten und trockneten muslimische Kürschner*innen die Felle. Im Anschluss boten (muslimische wie jüdische) Händler*innen sie zum Verkauf oder brachten sie in andere Handelszentren.

Während der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts verließen die meisten Karakulfelle Buchara auf Kamelkarawanen, die unter nomadischer Führung in Richtung Iran, Afghanistan und den Kaukasus unterwegs waren.5 In dieser ausgedehnten Region waren Karakulfelle sehr geschätzt: Man verwendete sie, um Hüte und Kleidung zu fertigen, die üblicherweise von gesellschaftlich hochstehenden Personen getragen wurde, ebenso von den aristokratischen Eliten, von den Ältesten einer ethnischen Gruppe oder von Staatsbeamten und Militärs.

Nach 1850 entwickelte sich Karakulpelz zum begehrten Modeartikel in Europa und den USA, wo es unter den Namen „Persisches Lamm“ oder „Astrachanpelz“ bekannt war. 1895 besuchte der zweitälteste Sohn des Emirs von Afghanistan London und überbrachte Königin Victoria achtzig Karakulpelze als Geschenk.6 In den 1920er Jahren machten glamouröse russische Auswander*innen Astrachanmäntel populär, insbesondere wenn sie als Darsteller*innen in Theater- und Ballettaufführungen auftraten.7

Dieser neue und rasch expandierende Markt für Karakulpelz veränderte den Handel in Zentralasien und auch das Verhältnis der Region zur übrigen Welt. Ab den 1850er Jahren brachten Karawanen Pelze ins russische Nischni Nowgorod, wo es in jedem Jahr mehrere Verkaufsmessen gab. Die Verkäufer waren muslimische und jüdische Händler*innen aus Zentralasien und Iran, ihre Abnehmer*innen kamen aus Moskau, wohin die Pelze dann mit Dampfschiffen über die Wolga transportiert wurden.

Die Moskauer Schneider*innen verarbeiteten die Pelze, die Tuchmacher*innen fertigten daraus die im ganzen Land beliebten Kleidungsstücke. Von deutschen und russischen Händler*innen wurden die Pelze auch nach Leipzig gebracht, dem globalen Zentrum des Pelzhandels zu dieser Zeit. Bis zu den 1880er Jahren waren sie so wertvoll geworden, dass zentralasiatische Geschäftsleute sie in ganzen Schiffsladungen nach Nischni beförderten, später dann in Personenzügen, die auf der neugebauten transkaspischen Eisenbahnlinie verkehrten.

Diese Züge und die Geschäftsleute, die sie nutzten, waren es denn auch, die die Russische Grippe verbreiteten – die erste Pandemie des Industriezeitalters, die sich zwischen 1889 und 1894 von Buchara nach Europa und in die USA ausbreitete und eine Million Toten forderte.8 In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts eröffneten Pelzhändler*innen Niederlassungen in Taschkent und Samarkand (im heutigen Usbekistan), um Karakulpelze nicht länger von Mittelsmännern kaufen zu müssen. Ein Gesinnungswandel, der in den 1920er Jahren einsetzte, brachte jedoch Karakulpelze in Europa und den USA in Verruf: Das Abschlachten der Lämmer wegen ihrer Felle galt nun als Tierquälerei. Andererseits berichteten europäische Händler*innen von der Sorgfalt, mit der zentralasiatische Hirt*innen, Handwerker*innen und Geschäftsleute ihre Tierbestände behandelten, mit denen sie ja auch ihren Lebensunterhalt bestritten. Tatsächlich waren es eher umgekehrt die europäischen Händler*innen in Nischni Nowgorod, die von ihren zentralasiatischen Kolleg*innen für die Misshandlung ihres kostbaren Eigentums abgemahnt wurden.

Nach dem Beginn der Russischen Revolution im Jahr 1917 flohen nomadische Turkmenen-Communitys zu Zehntausenden aus den Steppen Zentralasiens; die meisten von ihnen ließen sich mit ihren Herden im Norden Afghanistans, auf der anderen Seite des Amurdarja nieder, der zu den längsten Flüssen dieser Region zählt. Im Jahr 1920 griffen die Bolschewiki Buchara an und verbannten den Emir, der in Kabul Zuflucht suchte. Muslimische und jüdische Kaufleute Zentralasiens verließen daraufhin Buchara in Richtung Afghanistan; viele von ihnen erreichten Kabul mit ihrem gesamten Vorrat an Häuten, Teppichen und Seidenstoffen. Einige von ihnen gründeten Unternehmen im persischen Maschhad, andere im britisch-indischen Peschawar, wieder andere zog es in die internationalen Zentren des Pelzhandels: Leipzig, London und New York.

Die Einwanderer*innen fanden rasch Anstellung als Karakul-Expert*innen, denn die in Buchara und Nischni Nowgorod erlernten Methoden zum Sortieren und Zusammenstellen von Pelzen waren sehr gefragt. Nach etwa einem Jahrzehnt gründeten jüdische Händler*innen eigene Unternehmen in London und New York. Häufig kehrten sie im Zuge dessen nach Afghanistan zurück, um Felle von den muslimischen Turkmen*innen zu erwerben, mit deren Familien sie über Generationen hinweg enge Beziehungen aufgebaut hatten.

Ab den 1930er Jahren kamen diese Händler*innen regelmäßig auch nach Leningrad, um im eigens für die jährliche, staatlich organisierte Auktion erbauten „Pelzpalast“ Felle zu erwerben. Die Reiserouten dieser Händler*innen spielten bei der Vernetzung von Nordamerika, Westeuropa und der UdSSR eine wichtige Rolle – Teile der Welt, die sich während des Kalten Krieges zunehmend voneinander entfernten.

In der internationalen und kosmopolitischen Welt des globalen Pelzhandels erreichten jüdische Händler*innen eine gewisse Prominenz.9 Modemagazine wie das Women’s Wear Daily veröffentlichten Nachrufe, die sie als „Führende Persönlichkeiten des afghanischen Pelzhandels“ würdigten. Das Londoner Hauptquartier der Hudson’s Bay Company, das namhafteste Unternehmen im Handel mit Fellen, betraute Elli Simkhaeff, einen jüdischen Händler, der ursprünglich aus Kokand (im heutigen Usbekistan) kam, Mitte der 1930er Jahre mit der Aufgabe, den Karakulpelzhandel des Unternehmens zu leiten – eine Rolle, die er bis 1968 ausfüllte. In dieser Zeit bauten jüdische Händler*innen aus Zentralasien enge Beziehungen zu afghanischen Regierungsbeamten und Kaufleuten auf. In London unterhielten sie gemeinsam mit muslimischen Unternehmer*innen Niederlassungen, afghanische Diplomat*innen verkehrten in ihren Häusern.

Die Gastfreundschaft, die jüdische Kaufleute ihren muslimischen Gästen gegenüber zeigten, beruhte auf einem gemeinsamen kulturellen Erbe. In London sagte mir ein Mann mit bucharisch-jüdischen Vorfahren, er könne sich daran erinnern, wie sein Vater mit Gästen pilaw gegessen habe, ein Gericht, das bei Muslim*innen und Jüd*innen in ganz Zentralasien beliebt ist.

Die Männer saßen beieinander, wie sie es auch in Zentralasien getan hätten: im Schneidersitz auf handgewebten Teppichen. Ein anderer Mann erzählte mir, wie sein jüdischer Vater den muslimischen Gästen, die Alkohol tranken, unauffällig Whisky einschenkte: „Die Muslime, die Alkohol zugeneigt waren, entschuldigten sich höflich und verließen kurz die Runde. Statt die Toilette aufzusuchen, gingen sie aber in den Frühstückssaal, um dort ein Glas Whisky zu trinken.“

Mit solchen Gesten demonstrierten die jüdischen Gastgeber*innen ihren Respekt gegenüber den muslimischen Gästen. Sie zeigten Verständnis für die religiösen Wertvorstellungen der Muslime, indem sie sicherstellten, dass diejenigen, die Alkohol trinken wollten, dies unbeobachtet von denen tun konnten, die Alkoholkonsum als unislamisch betrachteten.

Die sowjetische Invasion Afghanistans brachte den Handel zwischen der Region und dem Westen ab 1979 zum Erliegen. Die europäischen und die US-Händler bezogen ihre Ware nun aus Gebieten, in denen sich Karakulschafe seit Beginn des Jahrhunderts verbreitet hatten, insbesondere aus Namibia und den zentralasiatischen Staaten der Sowjetunion. In London fanden die letzten Auktionen, bei denen Karakulpelze aus Afghanistan verkauft wurden, Mitte der 1980er Jahre statt.

 

Die Geschichte Hamidullahs

Viele der Muslim*innen Zentralasiens, die vor dem bolschewistischen Angriff auf Buchara 1920 geflohen waren, suchten Zuflucht in Afghanistan. Nach ihrer Ankunft stützten sie sich auf ihre geschäftlichen und handwerklichen Fähigkeiten, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie gründeten Familien und belebten die Communitys von Neuem.10 Die Geschichte Hamidullahs, des Enkels eines zentralasiatischen Geflüchteten, wirft ein bezeichnendes Licht auf die anhaltende Bedeutung der Reisen, von denen dieser Beitrag handelt – auch wenn die Umstände bei ihm und seiner Familie ganz andere sind als die zuvor beschriebenen.11

Hamidullahs Vorfahren kamen im frühen zwanzigsten Jahrhundert aus Zentralasien nach Afghanistan. Der Vater seiner Mutter, Abdur Rahman, stammte aus einer wohlhabenden Unternehmerfamilie in Buchara. Bei einem Angriff auf die Stadt wurde er von einer bolschewistischen Patrouille entdeckt. Er vergrub das Vermögen der Familie am Fuß eines Baumes und versteckte sich – während eines Feuergefechts war er verwundet worden – in einem Viehstall. Einige Tage später überquerte er die Grenze nach Nordafghanistan, ohne allerdings seinen Besitz mitnehmen zu können. Er ließ sich in Mazar-e Scharif nieder und fand Arbeit in den Stallungen eines lokalen Würdenträgers. Schließlich zog er nach Kabul, wo er als Koch in einer Teestube arbeitete und seiner Kundschaft das berühmte usbekische pilaw servierte.

Hamidullahs Großmutter väterlicherseits floh im Zuge der Russischen Revolution ebenfalls aus Zentralasien, gemeinsam mit ihren Brüdern. Um Darwaz (eine Region im Osten des Buchara-Emirats) verlassen zu können, mussten sie den reißenden Strom des Pandsch in einem Boot aus Kuhhaut überqueren. Dieser Fluss, der Darwaz durchfließt, markiert heutzutage die Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan.

Die Familie ließ sich in einer Stadt in der Provinz Badachschan im Nordosten Afghanistans auf einem Stück Land nieder, das ihnen vom Staat geschenkt worden war. In dieser Weise erschloss der Staat in den 1920er und 1930er Jahren aus Zentralasien neue Siedlungsgebiete für Zehntausende Geflüchtete, hauptsächlich im Norden, aber auch im Süden.

Die Brüder arrangierten schon sehr bald die Heirat ihrer Schwester mit einem Mann namens Mullah Boy, der ebenso wie die Familie von der gegenüberliegenden Seite des Pandsch kam. Mullah Boy hatte die Heimat noch vor der Russischen Revolution von 1917 verlassen, um das renommierte „Haus der Gelehrsamkeit“ zu besuchen, ein Zentrum für Islamstudien im indischen Deoband. Als Mullah Boy bei seiner Rückkehr nach Badachschan kam, sagte man ihm, die Bolschewiki würden ihn töten, sobald er seine Heimat beträte. In den 1930er Jahren heiratete das Paar und ließ sich in einer Stadt in Badachschan nieder, wo Hamidullahs Vater, Azizullah, geboren wurde.

Hamidullah erzählte mir, sein Großvater Mullah Boy sei in den 1950er Jahren verstorben. Kurz nach seinem Tod sei seine Großmutter an Tuberkulose erkrankt. Ihre Brüder brachten sie zur Behandlung nach Kabul. Als sie wieder genesen war, erfuhr sie, dass diese das Haus, in dem sie mit ihrem Ehemann gewohnt hatte, verkauft hatten. Den Erlös mit ihr zu teilen, waren sie nicht bereit. Um zu überleben und Azizullah ernähren zu können, arbeitete sie in Kabul als Schneiderin.

Schließlich heiratete Hamidullahs Großmutter ein zweites Mal. Ihr neuer Ehemann hatte eine Uhrenwerkstatt in einem Kabuler Bazaar. Azizullah lernte von seinem Stiefvater, wie man Uhren repariert. Nach dessen Tod nahm ein großzügiger Kaufmann Azizullah als Lehrling auf. Viele muslimische Geflüchtete aus Zentralasien verdienten ihren Lebensunterhalt seit den 1950er Jahren damit, Schweizer Uhren zu verkaufen und zu reparieren.

Azizullah verdiente gut. Er heiratete Bibi Gul, Abdur Rahmans Tochter. Während der 1970er Jahre ergänzte er seine Einkünfte, indem er die Uhren der Soldaten reparierte, mit denen er seinen Wehrdienst absolvierte. Noch im selben Jahrzehnt eröffnete er eine Werkstatt in Pul-e Mahmud Khan, einem Viertel in Kabuls „Altstadt“, wo viele jüdische und muslimische Geschäftsleute aus Zentralasien mit Pelzen, Teppichen und ausländischen Währungen Handel betrieben.

In den frühen 1980er Jahren wurde Azizullah erneut zum Militärdienst einbestellt. Zu dieser Zeit, unmittelbar nach der sowjetischen Invasion von 1979, erschien ihm das zu gefährlich. Um der Einberufung zu entgehen, floh er mit seiner Familie nach Pakistan. Sie gründeten erneut eine Uhrenwerkstatt und wohnten in Sohrab Goth, einem Stadtteil von Karatschi, in dem in den 1980er Jahren viele Menschen muslimischen Glaubens lebten, die aus Zentralasien ausgewandert waren.

Im Jahr 1992 ermutigte ein Freund, der Azizullah in Karatschi besuchte, die Familie, nach Tadschikistan zu gehen. Dieser Freund half ihnen auch, Aufenthaltsvisa zu bekommen und so fuhren sie über Afghanistan nach Tadschikistan. Die Familie lebte während des Bürgerkriegs in Chudschand und zog schließlich nach Duschanbe, wo sie in der Sadbarg-Markthalle wieder ein Uhrengeschäft eröffnete. Der Markt war in den 1990er Jahren ein Handelszentrum, in dem Hunderte von Afghanen ihre Läden hatten.

Während der Zeit in Tadschikistan bot sich die Möglichkeit, nach Kanada zu gehen, um dort Asyl zu beantragen. Doch Hamidullahs Großmutter väterlicherseits, die bei der Familie lebte, lehnte ab: in einem nicht-muslimischen Land wolle sie nicht leben. Sie starb schließlich als Geflüchtete in derselben Region Tadschikistans, in der sie zur Welt gekommen war, bevor die Sowjets die Grenzen des Landes neu gezogen hatten.

Einige Jahre nachdem internationale Streitkräfte und afghanische Einheiten die Taliban entmachtet hatten – das war 2005 – beschloss die Familie, nach Kabul zurückzukehren und dort ihren Uhrenladen wieder aufzumachen. Zu dieser Zeit ein Geschäft in Kabul zu betreiben, war schwierig, und es war gefährlich. Frustriert kehrte Hamidullah (ohne seinen Vater um Erlaubnis gefragt zu haben) nach Karatschi zurück, wo er lernte, Mobiltelefone zu reparieren. Zwar war Azizullah wütend, dass sein Sohn ohne seine Einwilligung nach Pakistan gereist war, das renkte sich aber rasch ein. Die beiden Männer verständigten sich darauf, dass die gesamte Familie in Karatschi leben sollte. Sie eröffneten einen Laden, in dem sie Uhren und Telefone reparierten. Es war ein erfolgreiches Unternehmen, das der Familie ein angenehmes Leben in einer lebhaften Hafenstadt ermöglichte.

Nach 2010 verschlechterte sich allerdings die Sicherheitslage in Karatschi, Grund waren aufkommende ethnische Konflikte. Hamidullahs Laden und die Wohnung der Familie lagen auf gegenüberliegenden Seiten einer Straße, sie zur Frontlinie der Kämpfe zwischen verschiedenen ethno-linguistischen Gruppen wurde. Er und sein Bruder mussten die Nacht häufig in ihrem Geschäft verbringen, weil draußen auf der Straße heftige Auseinandersetzungen stattfanden. Die zunehmende Gewalt brachte sie dazu, nach Duschanbe zurückzukehren und ihren Laden wieder im Sadbarg-Markt zu eröffnen.

Doch 2015 war wiederum Duschanbe für afghanische Geflüchtete zu einem feindseligen Ort geworden. Tadschikische Regierungsbeamte bezichtigten afghanische Einwander*innen, am illegalen Drogenhandel beteiligt und in terroristische Aktivitäten involviert zu sein. Der Führungselite des Landes missfielen Größe und Umfang der Unternehmen, die erfolgreiche afghanische Geschäftsleute in der Stadt gegründet hatten.12

Afghanischen Geflüchteten war es nunmehr untersagt, in der Stadt zu leben. Diejenigen, die es dennoch taten, mussten regelmäßig Bestechungsgelder an die Polizei bezahlen. 2016 investierte die Familie ihre Ersparnisse in Visa für die Türkei. In Istanbul angekommen, ließen sie sich in Zeytinburnu nieder, einem Arbeiterbezirk, der seit den 1950er Jahren für Familien aus Zentralasien und Afghanistan zur neuen Heimat wurde. Wieder eröffneten sie ein Geschäft für Uhren und Telefone.

Die wirtschaftliche Situation in Istanbul war schwierig: Die Kosten waren hoch, es gab viel Konkurrenz. Die Familie wollte ihre letzten Ersparnisse nicht in einem erfolglosen Unternehmen verlieren, also nahmen sie, was sie noch hatten, und kauften ein kleines Appartement in der Industriestadt Çerkezköy, westlich von Istanbul.

Ohne das nötige Geld für einen eigenen Betrieb musste Hamidullah für türkische Ladenbesitzer Uhren reparieren und so seinen Lohn verdienen. Seine beiden Brüder arbeiteten für Geschäfte in der Nachbarschaft und reparierten Handys. Wenn sie frei hatten, nahmen sie ihren Uhrenhandel mit Secondhand-Uhren wieder auf, die sie bei Online-Auktionen kauften.

Im Lauf der Jahre hatte Hamidullah geheiratet und eine eigene Familie gegründet. Seine Kinder kamen in Pakistan, Tadschikistan und der Türkei zur Welt. „Wir sind seit vier Generationen Geflüchtete, die umherziehen“, sagte er mir. „Meine Kinder wurden in drei verschiedenen Ländern geboren. Jetzt leben wir in der Türkei und werden, so Gott will, bald die türkische Staatsbürgerschaft erhalten.“

Als die Familie in Karatschi lebte, verliebte sich sein jüngerer Bruder und hielt die Beziehung aufrecht, als er bereits nach Duschanbe und später in die Türkei gezogen war. Schließlich reiste er von Istanbul nach Karatschi, um seiner großen Liebe einen Antrag zu machen. Als er ankam, begegneten ihm die Eltern der Braut voller Misstrauen. „Wer bist du?“, fragten sie. „Am einen Tag bist du in Karatschi, am nächsten in Tadschikistan und dann bist du in der Türkei. Bist du ein IS-Terrorist?“ Er antwortete: „Ich bin kein Terrorist. Ich bin ein Tourist. Meine Familie reist gern, um die Welt zu sehen.“ Dann ging er und schwor sich, nie wieder zurückzukehren.

Die Erfahrung der Familie, über ein Jahrhundert lang zwischen vier Ländern umherzuziehen, hat ihre Lebenseinstellung geprägt, wie mir Hamidullah erzählte. „Wir bleiben immer zusammen“, sagte er. „Als sich Angehörige meiner Familie das letzte Mal entschieden haben, alleine zu reisen, verloren sie den Kontakt zu ihren Verwandten für immer. Auch wenn einer von uns alleine einen besseren Ort finden könnte: Wir ziehen es definitiv vor, zusammen zu bleiben“.

Die in diesem Beitrag untersuchten Netzwerke spiegeln moderne Formen nationaler und geopolitischer Dynamiken wider, sind aber ebenso von kommerziellen Mechanismen und geografischen Gegebenheiten geprägt. Wenn man diese Beziehungen untersucht, zeigt sich die Bedeutung von zyklischen Formen der Mobilität, die mehrere Regionen verbinden. Damit hinterfragen meine Recherchen konventionelle Modelle, die in migrantischen Communitys nichts weiter als transnationale Ausdehnungen von Nationalstaaten sehen.

Die hier vorgestellten Gewerbetreibenden sind mit Sicherheit keine archaischen Relikte aus der Zeit der Seidenstraße. Ihre Lebenswege zeigen jedoch, wie die durch das Umherziehen entstandenen Verbindungen in die sozialen Netze und Fähigkeiten von mobilen Menschen eingeflochten sind. Von den Pelzhändler*innen in London bis zu den zentralasiatischen Uhrmacher*innen in Kabul haben diese Reisenden über Generationen hinweg Fähigkeiten erworben. Ihre Expertisen haben sie in die Lage versetzt, in den unterschiedlichsten geopolitischen Zusammenhängen ihren Lebensunterhalt zu verdienen und gesellschaftliches Ansehen zu erwerben.

 

Dieser Beitrag basiert auf Informationen, die ich für das Projekt „The Afterlives of Urban Muslim Asia: Alternative Imaginaries of Society and Polity‟ zusammengetragen habe (Grant Nummer AH/V004999/1). Dem Arts and Humanities Research Council, UK, danke ich für seine Unterstützung.
 

Aus dem Englischen von Michael Götting


Dieser Text erschien erstmalig im Musafiri: Von Reisenden und Gästen (Berlin: HKW & Archive Books, 2025). S. 94–105. Eine englische Ausgabe des Readers ist ebenfalls erhältlich. 

 

1 Siehe Alexander Morrison, The Russian Conquest of Central Asia: A Study in Imperial Expansion, 1814–1914, Cambridge: Cambridge University Press, 2020.

2 Siehe Magnus Marsden, Beyond the Silk Road: Trade, Mobility and Geopolitics across Eurasia, Cambridge: Cambridge University Press, 2001.

3 Vgl. Connie Zondagh, Karakoel: Diamant of Matrys?, Windhoek: Eirup, 1990.

4 Scott Levi, Bukharan Crisis: A Connected History of 18th-Century Central Asia, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press, 2020.

5 Nikolai Khanikoff, Bokhara: Its Amir and Its People, übers. v. Baron Clement A. de Bode, London: James Madden, 1843, S. 212–13.

6 Robert D. McChesney, An Afghan Prince in Victorian England: Race, Class and Gender in an Afghan-Anglo Imperial Encounter, London: I. B. Tauris, 2024.

7 Alexandre Vassiliev, Beauty in Exile: The Artists, Models and Nobility Who Fled the Russian Revolution and Influenced the World of Fashion, New York: Harry N. Abrams, 1998.

8 Patrick Berche, „The Enigma of the 1889 Russian Flu Pandemic: A Coronavirus?“, in: La Presse Médicale 51/3 (2022).

9 Magnus Marsden, „Adjusting Scales: Jewish Trading Networks in and beyond Afghanistan, 1950–Present-Day“, in: History and Anthropology (Dezember 2023), S. 1–20.

10 Brian Spooner, „Weavers and Dealers: The Authenticity of an Oriental Carpet“, in: Arjun Appadurai (Hg.), The Social Life of Things: Commodities in Cultural Perspective, Cambridge: Cambridge University Press, 1986, S. 195–235.

11 Ich traf Hamidullah zwischen dem 10. und 18. Oktober 2023 in der türkischen Stadt, in der er wohnt. Ich folge den Konventionen der Anthropologie und verwende im Weiteren Pseudonyme, wenn ich von Hamidullah und seiner Familie berichte.

12 Für detailliertere Informationen siehe Magnus Marsden, Trading Worlds: Afghan Merchants across Modern Frontiers, London: Hurst and Co., 2016.