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Musafiri

Von Reisenden und Gästen

Ausstellungs- und Forschungsprojekt

8.3.–16.6.2025, Eröffnung 7.3.2025, 19:00

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Diane Severin Nguyen, IF REVOLUTION IS A SICKNESS (Videostill), 2021

Diane Severin Nguyen, IF REVOLUTION IS A SICKNESS (Videostill), 2021. Courtesy of the artist

Das arabische Wort Musafir klingt mit einer erstaunlichen phonetischen Kohärenz in unterschiedlichen Sprachen und Kulturräumen an. Von Rumänisch über Türkisch, Farsi, Urdu, Hindi, Swahili, Kasachisch und Uigurisch umfasst das Gebiet seines Auftretens einen eindrucksvollen, weiten geografischen Raum. Während das Wort in seiner ursprünglichen Bedeutung und in den meisten dieser Sprachen den Reisenden bezeichnet, beschreibt es im Türkischen und Rumänischen den Gast, also die besondere Position des Hochwillkommenseins. Ganz besonders im Rumänischen schwingt in Musafir das Privileg des häuslichen Bereichs mit. Es ist ein Wort, das für diejenigen reserviert ist, die man im eigenen Heim empfängt. Die Ausstellung Musafiri: Von Reisenden und Gästen wurzelt in dem Bemühen, eine Welt zu ermöglichen, in der Reisende ankommen können und als Gäste empfangen werden. Sie folgt Welten, die von furchtlosen Reisenden, von in der Vergangenheit unfreiwillig verschleppten Individuen und Communitys sowie den immer dramatischeren Migrationsbewegungen im Hier und Jetzt. Die Ausstellung durchquert die Welten, die sich eröffnen, wenn man die Begrenzungen der gewohnten Umgebung verlässt, und sie verfolgt die vielen künstlerischen Begegnungen, die daraus hervorgegangen sind.

Musafiri: Von Reisenden und Gästen spricht aus der Position der Gegenwart und nimmt dabei die aktuellen Ausprägungen wesentlich älterer Spannungen in den Blick, die um die Frage kreisen, wer willkommen ist und wer nicht, wessen Perspektiven willkommen sind und wessen Perspektiven nicht willkommen sind und wer über diese Grenzbereiche entscheidet. Der öffentlich Diskurs und die Politik unserer Zeit (und dabei ist Deutschland eines der augenfälligsten Beispiele) ist in vielerlei Hinsicht von Ängsten geprägt, die aus der vermeintlichen Bedrohung der etablierten (und häufig hegemonialen) und in den jeweiligen lokalen Blickwinkeln verankerten Sichtweisen auf die Welt herrühren. Als solches ist die Ausstellung ein dringendes Plädoyer für die Anerkennung und Bekräftigung der polyphonen Welten all derer, die sich von den Orten ihrer Herkunft gelöst und auf den Weg gemacht haben.

Um an diesen Punkt zu gelangen, muss die Ausstellung einige Umwege nehmen (eine für viele Reisende vertraute Erfahrung), die allerdings eher durch die Zeit als durch geografische Räume verlaufen. Reisen und Suchen waren grundlegende Bestandteile der Vorstellungen von persönlicher Entwicklung, wie uns viele der lange überlieferten Geschichten und auch entsprechende Debatten auf dem Gebiet der Narratologie zeigen. Aber während der Aufbruch zu einer umherschweifenden Suche entscheidend für die Formung des Ichs sein kann, so kann dieser Aufbruch ebenso entscheidend für die Ausbildung eines kohärenten Weltbilds sein. Einer dieser Umwege führt über die lange Tradition der Vorstellung von einer Universalität, die außerhalb der Europäischen Aufklärung entwickelt wurde. Auf diesem Umweg wird erkennbar, wie solche Vorstellungen aus den Betrachtungsweisen von Menschen hervorgegangen sind, die ihre Herkunftswelten verlassen haben. Es wäre schwierig, den von Lourenço da Silva Mendonças 1684 im Vatikan gegen die Sklaverei vorgebrachten Fall bei einer solchen Erörterung nicht zu berücksichtigen. Als Prinz aus dem königlichen Haus von Ndongo (heute Angola) war er ein bemerkenswerter Reisender und Universalist. Die wirklich historisch zu nennende Dimension seines Falls liegt aber in den Argumenten, die Mendonça bei seinem Plädoyer vorbrachte. Seiner Argumentation lag eine Vorstellung von Rechten zugrunde, die allen Menschen zuteilwerden sollten, „Juden, Heiden oder Christen in jeder Region der Welt“  – ein Jahrhundert vor der Abolitionist*innenbewegung der Weißen, und den politischen Umbrüchen des späten 18. Jahrhunderts vorausgehend.Welchen Weg sollte man angesichts dieser Tatsache einschlagen, um Ideen infrage zu stellen werden, die zuvor der Europäischen Aufklärung zugerechnet wurden (darunter die berechtigterweise kritisierte Idee der ‚Menschenrechte‘, die gedeckt von einem US-amerikanischen Konsens häufig auf kriminelle Weise instrumentalisiert wurde) – wenn man doch weiß, dass diese Ideen zuerst von einem Prinzen aus Ndongo im Jahre 1684 geäußert wurden, als er für die gesamte Menschheit sprach?

Vor der Kulisse der globalen Geschichte beschäftigt sich Musafiri: Von Reisenden und Gästen mit regionalen Erzählungen. Viele der Arbeiten konzentrieren sich auf Individuen, die sich auf Weltreisen begeben oder Projekte realisiert haben, in denen sie enzyklopädisches Wissen aus unterschiedlichsten kulturellen Kontexten und Perspektiven versammeln. Die Ausstellung betrachtet Zeiten und Individuen, die vor den modernen kolonialen Epochen existierten oder außerhalb dieses Rahmens standen (so sehr sie auch durch eurozentrische Geschichtsschreibung, den liberalen Mythos des heroischen Individuums und die Ethik des Reisenden als einem Weltenfresser überschattet worden sind). Durch die Betrachtung der zuvor erwähnten prämodernen Universalitäten, stellt sich die Ausstellung der Herausforderung, ein Instrumentarium zu entwickeln, das der großen Mehrheit der anonym gebliebenen Reisenden, die durch ihre Mühe und Arbeit die Welt des globalen Kapitals aufgebaut und erhalten haben, historische Gerechtigkeit zukommen lässt. Diese Reisenden sind die Versklavten der Middle Passage und die Zwangsarbeiter*innen aus Indien, China und Indonesien, die in die Amerikas kamen und auch den Indischen und den Pazifischen Ozean durchquert haben. Diese Reisenden sind die Einwanderer der heutigen Zeit; nicht nur diejenigen, die noch immer in Richtung der imperialen Zentren wandern, sondern auch diejenigen, die auf Pfade gelangten, die durch veränderte Wirtschaftsgeografien entstanden sind; von Südasien in Richtung der Golfregion, von Südostasien nach Ostasien, aus den Ländern des afrikanischen Kontinents (und Südeuropas) nach Südafrika, von den Anden nach Brasilien und von Venezuela in Richtung der gesamten lateinamerikanischen Hemisphäre.

Viele Musafiri-Communitys wurden durch die Verbreitung miteinander geteilter popkultureller Referenzen gestärkt und noch enger untereinander verbunden. Die Ausstellung weist, neben einer Reihe von historischen Verbindungslinien, auf einige dieser Referenzen hin: von der derzeitigen Welle des K-Pop, die Musikgeschmack, Identität, Schönheitsideale oder Vorstellungen von race in Asien und anderen Kontinenten verändert, bis hin einer früheren Manifestation globaler Verflechtungen, wie sie sich um das Lambada-Fieber der 1990er gebildet haben, das seinerseits kulturellen und akustischen Universen auf dem Fuße folgte, die auf beiden Seiten des Black Atlantic geboren wurden und die Idee der globalen Popkultur grundlegend neu gestaltet haben. Die Ausstellung ist außerdem an anderen Räumen interessiert, um die herum sich diasporische Communitys gebildet haben, an gemeinschaftlichen Räumen der Identifikation – wo sich Reisende wie Gäste fühlen, und sei es nur untereinander – an den geografischen Räumen des Ankommens vieler Musafiri. Häufig verwoben mit, aber doch getrennt von den Räumen für Tourist*innen (diese anderen Reisenden der modernen Ära) sind das die Märkte, die Nagelstudios, die Haarsalons und Cafés – Räume, in denen Communitys gegenseitiger Unterstützung gedeihen und ihre eigenen Geschichten erzählen.

Kulturen und Ideen sind schon lange vor der Ausbreitung der Popkultur weit gereist und haben die Routen, auf denen sie kursierten, transformiert. Auch wenn die frühen Aufbrüche dem Verlangen nach Waren und Gütern entsprangen, waren Erkenntnisse, Überzeugungen und ästhetische Formen ihre steten Begleiter. Als ein Beispiel für diese Vorgänge können Textilien angesehen werden, die historische Ebenen, soziale Beziehungen und wirtschaftliche Strukturen miteinander verweben, wodurch ihrer Herstellung Wert verliehen und so die Nachfrage für ihre Produktion und Verbreitung befeuert wurde. Die plurikontinentale und häufig finstere Historie der Farben Indigo oder Karmin spiegeln diese Geschichte wie auch die ästhetischen, intellektuellen und spirituellen Systeme wider, die aus ihnen Objekte gemacht haben, deren Bedeutung man lesen und verstehen muss, die in Ehrfurcht oder mit Entzücken zu betrachten sind – all das, während sie die subjektiven und einzigartigen Stimmen ihrer Schöpfer*innen wiedergeben.

Es dürfte jedoch schwerfallen, die von den Religionen in Gang gesetzten Bewegungen und Ausbreitungen zu übertreffen. Im Rahmen von Glaubenssystemen sind auch die meisten Ideen von Universalismus entwickelt worden. Entsprechend folgen viele der in der Ausstellung berücksichtigten Reisenden den Routen, die auf religiöser Verwandtschaft beruhen und bedienen sich religiöser Sinnsysteme, um die Welt zu begreifen. In diesem Prozess haben viele von ihnen diese Systeme weiterentwickelt oder sie sogar hinter sich gelassen, nachdem sie unterwegs mit den realen Komplexitäten der Welt konfrontiert worden sind. Die in der Ausstellung gezeigten Werke spüren einigen dieser Themen nach, sie verweisen zum Beispiel auf die Fahrten von umherziehenden Sufi-Heiligen.

Musafiri: Von Reisenden und Gästen schafft Aufmerksamkeit für die Narrative, die unsichtbar auf der ‚Unterseite‘ der Globalisierung verschwinden; nämlich die Geschichten der Wanderarbeiter*innen – der anonymen Arbeitskräfte auf den Baustellen von Infrastrukturprojekten, der Transportarbeiter*innen und Leiharbeiter*innen, oder der ‚systemrelevanten Kräfte‘ (um eine Formulierung aus jüngsten Pandemiezeiten zu verwenden) –, die entweder in weit entfernten Städten ihrer eigenen Länder leben (so wie die zig Millionen Binnenwanderarbeiter*innen, die den ländlichen Raum in Richtung der chinesischen Metropolen verlassen) oder auf den neu entstandenen regionalen Migrationsachsen beziehungsweise entlang der etablierten historischen imperialen Routen unterwegs sind. Die Werke der Ausstellung geben zugleich den Erzählungen derjenigen Menschen eine Stimme, die den Fluss dieser Wanderbewegungen gewährleisten, wie etwa die philippinischen Arbeitsmigrant*innen, die unter den Besatzungen der Schiffe auf den Weltmeeren die größte Gruppe stellen. Schließlich zeichnet die Ausstellung die Reisen derer nach, die ihre Heimat durch brutale Zwangsrekrutierung oder aufgrund der Lebensumstände verlassen mussten, um an fernen Orten und unter fremder Flagge zu den Waffen zu greifen. Das umfasst die Millionen von Menschen, die für die Kolonialstaaten in den Weltkriegen gekämpft haben und reicht bis hin zu den Nepales*innen, die derzeit von Russland verpflichtet werden, um in der Ukraine zu kämpfen.

Aber die globale, kapitalistische Arbeitsverteilung, mit ihrer Ausbeutung „rassifizierter“ Körper und ihrem Netzwerk von Infrastrukturen, das die Bewegungen von Wanderarbeiter*innen antreibt und sie der globalen, kapitalistischen Produktions- und Handelsmaschinerie einverleibt, marginalisiert auch Individuen und Gruppen, deren Reisemöglichkeiten durch zahlreiche Arten von Grenzen massiv eingeschränkt werden. Auf dieser globalen Landkarte, die sich aus der Vorstellungskraft derer zusammensetzt, die den Steuermechanismen dieser Arbeitsflüsse unterworfen sind – gefangen zwischen endlosen Schichtdiensten, chronischer Arbeitslosigkeit oder dem häufig permanenten Zustand dazwischen – erscheint eine andere Welt, nach der diejenigen streben, die ihre Dörfer nie verlassen haben, deren Hände und Träume jedoch den globalen Handel am Laufen halten (eine Dynamik, die sich auch in Europa zeigt).

Diese Fragen führen schließlich zu der einen Frage, die vielleicht die wichtigste ist und viele der Suchbewegungen und Anstrengungen berührt. Nämlich, ob wir immer noch die Hoffnung hegen können, dass die Musafiri eines Tages irgendwo auf eine Welt treffen, in der die Macht der Gastgeber*innen, zu bestimmen, wer für immer ein Musafir bleiben muss, zerschlagen worden ist und nur noch der Chronik einer vergangenen Zeit angehört.