Jurystatement

Der Internationale Literaturpreis zeichnet sich dadurch aus, dass Schriftsteller*innen und Übersetzer*innen gemeinsam gewürdigt werden. Dieser Blick in die Welt, der über kulturelle und nationale Grenzen hinausgeht und die Vollendung eines Werks auch in seiner Übersetzung entdeckt, dürfte in der deutschen Preislandschaft einzigartig sein. So erreichen die Jury in jedem Jahr Stimmen und Perspektiven aus vielen Teilen der Welt, eingesandt von Verlagen aus dem gesamten deutschen Sprachraum.

Die Kunst des Übersetzens liegt unter anderem darin, die Zielsprache für vielfältige kanonische Bezüge zu öffnen. Die Werke erkunden Sprache als einen Erlebnisraum. Ihre Erzählzugänge sind vielschichtig: In Wenn es an Licht fehlt tritt – anknüpfend an die südamerikanische Modifikation des realistischen Romans – dem Authentizitätsbegehren der Gegenwart die Geschichte einer über drei Kontinente verteilten realen Familie im 20. Jahrhundert gegenüber. Die Rückkehr zum US-amerikanischen Abenteuerroman des 19. Jahrhunderts durch James wird zu einer Korrektur des westlichen Literaturkanons – der Roman ergänzt nicht nur die Klassiker Mark Twains um eine wichtige Stimme, sondern versprachlicht die Emanzipation des Versklavten Jim durch seine Abkehr von einer Grammatik der Unterdrückung. In Meine Katze Jugoslawien erweist sich post-jugoslawischer Surrealismus als Angebot für die künstlerische Verarbeitung eines intergenerationalen Traumas. Die Hinwendung des Romans Kibogos Himmelfahrt zu mündlichen Erzähltraditionen erweitert die Literaturtradition, in die sich ein Schreiben der Gegenwart auch auf Deutsch stellen kann – Figuren werden Teil von Mythen, Legenden und kollektiven Erfahrungen. Meine Männer erzählt eine Auswanderergeschichte im 19. Jahrhundert und zeigt in einer radikal verdichteten Sprache, wie weibliche Körperlichkeit zum Schauplatz und Ausgangspunkt von Gewalt wird.. Und wo der Klang verstummt, ermöglicht die Form des Romans Quallen haben keine Ohren mit einer Erzählung über Gehörlosigkeit eine Haptik der Sprache.

Aus dem Spanischen, Englischen, Französischen, Finnischen und Norwegischen sind die Werke der diesjährigen Shortlist mit gebührender Zurückhaltung oder mit eigenen Kunstsprachen, mal körperlich, mal in die Nacht gesprochen in den Erlebnis- und Bezugsraum des deutschsprachigen Lesens übertragen worden.
– Deniz Utlu für die Jury

James
Percival Everett
aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Carl Hanser Verlag, 2024

Meine Männer
Victoria Kielland
aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger
Tropen Verlag, 2023

Kibogos Himmelfahrt
Scholastique Mukasonga
aus dem Französischen von Jan Schönherr
Claassen, 2024

Quallen haben keine Ohren
Adèle Rosenfeld
aus dem Französischen von Nicola Denis
Suhrkamp, 2023

Meine Katze Jugoslawien
Pajtim Statovci
aus dem Finnischen von Stefan Moster
Luchterhand Literaturverlag, 2024

Wenn es an Licht fehlt
Juan Gabriel Vásquez
aus dem Spanischen von Susanne Lange
Schöffling & Co., 2023