Über Fußball und das Theater kollektiver Körperbildung
In der großen Bandbreite an menschlichen Ausdrucksformen erweist sich Fußball als besonders dynamische Kunstform. Sie verbindet individuelle mit gemeinsamen Geschichten und kann als Plattform für die Erkundung von Zugehörigkeit, Identität und diverse Aspekte des menschlichen Körpers dienen. Auf dem Spielfeld entfaltet sich ein Narrativ, in dem jede Bewegung, jeder Pass, jedes Tor einen Pinselstrich auf der Leinwand der kollektiven Erfahrung darstellt. Fußball ist ein Sammelbecken für Gemeinsamkeiten, durch das geografische und kulturelle Grenzen überwunden werden können. Von den Straßen Rio de Janeiros über Wiesen in Manchester bis zu Parkplätzen in Jakarta oder Spielfeldern in Lagos hallen die Echos von Triumphen und Niederlagen nach und vereinen die Erzählungen von Individuen und Gemeinschaften.
Das Fußballfeld wird zum Schmelztiegel, in dem Körper nicht nur in physischer Hinsicht, sondern auch emotional und psychologisch geformt werden. Das Streben nach Spitzenleistungen macht aus den Einzelnen Verkörperungen von Kraft, Beweglichkeit und Ausdauer. Über die körperliche Aktivität hinaus fördert Fußball ein Gefühl der Zugehörigkeit und Identität und bietet einen Zufluchtsort, an dem Unterschiede zelebriert und Individualität angenommen werden.
Im lebendigen Mosaik der Fußballkultur werden Körper zu einem Ausdrucksmittel, das Sprachbarrieren und gesellschaftliche Unterschiede überwindet. Durch anmutiges Dribbling, präzise Pässe und synchrone Bewegungen sprechen die Spieler*innen eine Sprache, die über Worte hinausgeht und Verbindungen über kulturelle Grenzen hinweg schaffen kann. Im so entstehenden Raum sind Spielende und Zuschauende in einer Sinfonie aus Bewegung und Emotion vereint.
Trotz dieser universellen Anziehungskraft ist Fußball zugleich mit Diskriminierung und Ausgrenzung konfrontiert. Impulse, die vom Ehrgeiz, ein Turnier zu gewinnen, bis zu nationalistischen Auswüchsen reichen, machen das Spiel zu einem der greifbarsten Schauplätze der Ausgrenzung von Körpern, die nicht starren Gendernormen entsprechen. In diesem Bereich werden allerdings auch Anstrengungen unternommen, um Vorurteile zu bekämpfen und einen Raum zu schaffen, in dem marginalisierte Stimmen ermächtigt werden. Durch Initiativen für Inklusion und Gleichberechtigung hat Fußball das Potenzial, auf breiter Ebene sozialen Wandel zu inspirieren und tief verwurzelte Vorurteile infrage zu stellen. Ballett der Massen: Über Fußball und das Theater kollektiver Körperbildung öffnet einen Raum der Reflexion über die Möglichkeiten, die Fußball und andere Sportarten bieten, um individualistischen Ehrgeiz zugunsten einer kollektiven Verkörperung und freudvollen Erfahrung zu überwinden – etwa wenn das Spiel sich auf Tribünen, Straßen, Bars, Haushalte und weitere soziale Räume ausweitet, in denen Fans zu einer Einheit werden. Das Programm zielt auf die Ermächtigung einer Vielzahl von Körpern ab, die in der Lage sind, ihre Existenz zu behaupten. Fußball erscheint zwar oft ein Synonym für Wettkampf und Sieg, doch sein wahres Wesen liegt jenseits der Anzeigetafel. Auch innerhalb des Stadions überragt der kollektive Körper individuellen Ehrgeiz und webt ein Netz aus Kameradschaft und Solidarität. Darin liegt die Schönheit des Spiels. Nicht im Triumph allein, sondern in der gemeinsamen Erfahrung des Strebens, Scheiterns, Durchhaltens.
Während die Besucher*innen sich durch die Räume des Hauses der Kulturen der Welt (HKW) bewegen, können sie den transzendentalen Aspekt erleben, der in den Spielplatz aller Möglichkeiten eingebettet ist. Die Installation von Joël Andrianomearisoa schafft einen Raum, in dem von all den Möglichkeiten geträumt werden kann, wenn ein Archipel von Lebewesen zu einer Einheit zusammenfindet. Fragen im Zusammenhang mit toxischer Männlichkeit und den Kulturen, die sie hervorbringen, werden in den Performances von La Fracture von Yasmine Yahiatène, Smoke Machine, Lion, and Jeep von Romeo Roxman Gatt sowie El Plan von Juan Betancurth behandelt, die sich alle der Geschlechterdiskriminierung durch persönliche Geschichten nähern und dabei die sozialen Grenzen berücksichtigen, die durch die Parameter des Sports auferlegt werden. Auch Portent, eine von Eddie Peake konzipierte Performance, greift diese Themen auf. Sie beruht auf einem Spiel von zwei Gruppen nackter Männer gegeneinander und stellt, wie viele weitere Darbietungen im Programm, die traditionellen Erwartungen in Bezug auf Gender und Körper infrage.
Der Kulturanthropologe David Edgar verfolgt mit seinem Beitrag das Ziel, Fußball als Praxis der Antidiskriminierung, Solidarität, Gemeinsamkeit und Gemeinschaftsbildung zu etablieren. Edgar schlägt vor, einen Raum zu schaffen, in dem nicht nur gespielt wird, sondern vor allem soziale Herausforderungen überwunden werden – eine Arbeit, die aktuell von diversen lokalen und internationalen Verbänden geleistet wird. In diesem Rahmen für Gespräche und Praktiken werden Verletzlichkeit, Solidarität und Katharsis durch kollektive Verkörperung ermöglicht. Ballett der Massen bietet in seinem Programm auch zwei Momente des Geschichtenerzählens, die diskursiven Austausch ermöglichen: Kongossa, präsentiert von den Autor*innen und Fußballkenner*innen Marcela Mora y Araujo und Musa Okwonga, ist ein Format, das den Weg von Informationen und Gerüchten nachverfolgt. Und Ceremony Found nimmt die Form einer Vortragsperformance an. Sie dreht sich um die Geschichte der Gumbe-Rhythmen, die in der Karibik entstanden und von befreiten versklavten Menschen auf den afrikanischen Kontinent gebracht wurden. Diese Rhythmen beeinflussten wiederum verschiedene Musikgenres, darunter Assiko, was sich zu einer feierlichen Praxis bei Fußballspielen in Ländern wie Angola, Guinea, Kamerun, Mali, Nigeria und Senegal entwickelte. Die Geschichte von Gumbe wird vom jamaikanischen Meistertrommler Ras Happa erzählt, begleitet von den Forscher*innen und Gründer*innen eines Londoner Drum-Circles, Véronique Belinga und Christxpher Oliver.
Das Programm der Performativen Praktiken des HKW betrachtet Fußball durch eine Perspektive, die dem Konkurrenzdenken entgegenwirkt und darauf abzielt, die Menschen für gemeinsame Träume und Transzendenz zusammenzubringen. Ballett der Massen sucht nach dem Potenzial des Fußballs als Theater, in dem kulturelle Fragen in den Vordergrund gerückt und gesellschaftliche Normen infrage gestellt werden können. Von Manifestationen der Vielfalt bis zu Protesten gegen Ungerechtigkeit wird das Spielfeld zur Bühne, auf der sich die Komplexität der menschlichen Erfahrung offenbart. Die globalen Fußballkulturen sind sehr vielfältig und spiegeln den Reichtum kollektiver Körpererfahrung wider. Von der leidenschaftlichen Begeisterung südamerikanischer Fankurven bis zur taktischen Präzision in europäischen Ligen bringt jeder Ort eine eigene Note in das ‚schöne Spiel‘ ein. Inmitten dieser Unterschiede schwingen universelle Themen wie Widerstandsfähigkeit, Leidenschaft und Einigkeit mit, die Spielende und Fans in einer Feier des menschlichen Geistes zusammenführen. Wie dieses Programm zeigt, erweist sich der Fußball nicht nur als Sport, sondern als lebendiges, atmendes Kunstwerk – als Zeugnis der Kraft des menschlichen Körpers und der Komplexität kollektiver Körperbildung.